Frage: Capoeira ist Sport und Kultur. Könntet ihr uns kurz erklären, was Capoeira ist und welches Potenzial Capoeira heute noch ermöglicht?

Buiu: Ja genau, Capoeira ist sowohl ein kulturelles Erbe, als auch ein sehr intensiver Aktivsport. Capoeira ist unter Sklaven in Brasilien entstanden, die aus Afrika entführt und in Brasilien verkauft wurden. Capoeira bedeutet eigentlich ein unbepflanztes, offenes Gelände. Genau dort trafen sich die damaligen Sklaven, um weit weg von ihren Unterdrückern ihre afrikanische Kultur zu pflegen.

Nany: Dabei ging es um Schutz und Verteidigung. Doch langsam sind unzählige weitere Elemente dazugestossen. Capoeira ist Musik, Tanz, Instrumente, Gesang, Theater und vieles mehr. Es ist immer der gemeinsame Widerstand gegen die Ausbeutung durch die Skalvenhalter. Es geht also um Widerstand und Befreiung. Also Ziele, die bis heute unser Leben prägen.

Im neuen Gemeinschaftszentrum der Favela Anchieta (1)

Frage: Ihr beide seit Referenzpersonen innerhalb der Capoeiraschule Guaraúna. Welches sind für euch entscheidende Momente im Werdegang von Guaraúna?

Nany: Für mich ist entscheidend, dass Guaraúna sich nicht einfach in einer Favela institutionalisiert hat, sondern immer weiter neue Horizonte sucht. Aber auf alle Fälle war der Bau des Gemeinschaftszentrums in der Favela Anchieta ein sehr prägender Moment. Das war richtig viel Arbeit und heute ist das Zentrum beinahe fertig, es fehlen nur noch die Schulzimmer im Eingangsbereich. Mit dem Zentrum sind auch die Kinder gewachsen und sind heute Jugendliche geworden. Viele werden hier weiter aktiv bleiben, andere bringen Capoeira weiter in andere Favelas.

Buiu: Sicher haben wir beide in der Capoeiraschule Guaraúna eine Bedeutung. Diese haben wir uns jeden Tag ein wenig mehr aufgebaut. Für mich ist das Wichtigste an Guaraúna, dass es uns nicht nur um die sportliche Aktivität geht. Capoeira ist für uns ein Instrument, mit dem wir sehr vielseitig arbeiten können. Doch wir machen viel mehr als nur akrobatische Sprünge. Capoeira ist die Grundlage. Aber eigentlich entwickeln wir Gemeinschaften. Das haben wir sehr eindrücklich in der Zeit der Pandemie gesehen. Alle Familien hielten wirklich zusammen, wir haben uns gegenseitig gehalten, um diese extrem schwere Zeit zu überstehen.

Nany: Capoeira und Guaraúna haben mich eigentlich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Guaraúna ist meine Lebensschule. Ich nehme mich heute als schwarze Frau wahr und bin stolz darauf. Ich weiss heute, dass ich etwas erreichen kann. Das verdanke ich diesem Kollektiv.

Frage: Nany hat bereits darauf hingewiesen, Guaraúna ist viel mehr als eine Capoeiraschule in einer Favela. Im Verein besteht eine unglaubliche Dynamik, die immer neue Favelas erreicht. Wie erklärt ihr diese Kraft und Energie?

Buiu: Capoeira hat einen wichtigen Platz in den Gemeinschaften der Favelas. Die Kinder und Jugendlichen schliessen Capoeira in ihr Herz ein. Und gerade weil wir so stark in der Gemeinschaft verwurzelt sind, ziehen wir auch immer weiter. Denn die Kinder werden älter, werden Jugendliche, irgendwann gründen sie eine Familie und ziehen weiter. Und mit ihnen zieht eben auch Guaraúna weiter.

Nany: Das klingt jetzt sehr romantisch und ohne Plan. Das stimmt auch. Aber natürlich bilden wir bewusst Jugendliche aus, damit sie die Fähigkeit erlernen, eine Capoeiragruppe zu leiten. Ich selber bin als Kind einer Capoeiragruppe von Guaraúna beigetreten, und heute bin ich mit Buiu Teil der Leitung. Aber wir sind viel mehr. Es ist immer sehr schön, wenn alle Gruppen aus den verschiedenen Favelas zusammenkommen. Guaraúna kann sich immer weiter ausbreiten, weil wir wissen, dass wir zusammengehören und gegenseitig auf einander zählen können.

Im neuen Gemeinschaftszentrum der Favela Anchieta (2)

Frage: Guaraúna hat in der Favela Cheba begonnen. Jetzt habt ihr eine starke Arbeit in der Favela Anchieta aufgebaut. Wie sehen eure Pläne aus?

Nany: Ja genau, Guaraúna wurde in der Favela Cheba gegründet. Dort bin ich als kleines, schüchternes Mädchen dazu gestossen. Als die Favela Anchieta Jahre später entstand, wurden wir eingeladen, mit den Kindern Capoeira zu spielen. Heute ist das Zentrum, das wir hier in der Favela Anchieta aufbauen konnten, grösser als unser ursprünglicher Raum in der Favela Cheba. Die Favela ist auch sehr viel grösser, und die Familien hier leben in extremer Prekarität. Das aufgebaute Zentrum ist viel mehr als eine Capoeiraschule. Capoeira ist nur ein kleiner Teil der Aktivitäten.

Buiu: Jeden Tag kommen mindestens 350 Menschen zu Aktivitäten hier ins Zentrum, sehr viele Kinder und Jugendliche, aber auch viele Eltern. Das Zentrum ist so eine Art Lunge der Gemeinschaft geworden. Hier finden die Menschen aktive Beteiligungsmöglichkeiten, Weiterbildungen, aber immer auch Rat und Unterstützung. In der Favela gibt es noch unglaublich viel zu tun. Die Lebensrealität ist immer noch sehr schwierig. Eine hohe Priorität ist die Kanalisierung des Abwassers. Dieses fliesst bis heute offen und stinkend zwischen den improvisierten Behausungen und durch die Gassen.

Nany: Aber wir sind auch bereits wieder viele Schritte vorwärts gegangen. Heute ist Guaraúna nicht nur in den Favelas Cheba und Anchieta aktiv. Insgesamt arbeiten wir in sieben Favelas. Unsere nächste Herausforderung ist ein Versammlungsraum in der Favela Morro da Mandioca (Maniokhügel). Denn eine Favela ohne gemeinschaftlichen Raum kann sich nur sehr schwer weiterentwickeln.

Buiu: Das alles ist nur Dank eurer Unterstützung möglich geworden. Ja, wir packen an, um das wahrgenommene Potenzial umzusetzen. Aber Novo Movimento hat das alles erst möglich gemacht. Wir sind euch allen sehr dankbar dafür.

Nany: Ich höre immer wieder, dass alles was wir zu tun vermögen, doch nie mehr als ein Tropfen auf einem heissen Stein sei. Möglich. Aber ich weiss, dass sich durch diese Arbeit mein Leben verändert hat und sogar sehr. Und hinter uns stehen hunderte Kinder, deren Leben ebenfalls verändert wurde. Das mag ein Tropfen sein. Aber ein Tropfen, der im Leben dieser Familie einen mächtigen Unterschied macht. Guaraúna ist für mich Schule, Familie und mein Zuhause. Herzlichen Dank!

Im neuen Gemeinschaftszentrum der Favela Anchieta (3)

(tuto)