Nazareth Cupertino hat wiederholt von ihrer Arbeit in der Zirkusschule berichtet. Ende 2024 hat sie die Koordination der Zirkusschule an Roselane Mattos übergeben. Jetzt ist sie in der Leitung des Projektes ‚Netzwerk Kinderrecht‘ aktiv, in dem die Zirkusschule ein sehr wichtiger Teil ist. Roselane und Nazareth erzählen im folgenden Gespräch über ihre Erfahrungen in der Zirkusschule im Stadtviertel Grajaú in der Südzone von São Paulo, einem der am stärksten durch Gewalt geprägten Stadtviertel am Rande der Metropole São Paulo.

Aufführung in der Zirkusschule des Kinderrechtszentrums Interlagos, São Paulo, Brasilien.

Frage: Könnt ihr uns kurz erklären, was die Zirkusschule so besonders macht?

Roselane: Die Zirkusschule ist tatsächlich ein ganz spezieller Ort. Im Zentrum des Stadtviertels Grajaú in der Südzone von São Paulo ist das rot-gelbe Zirkuszelt nicht zu übersehen. Mit seiner Sichtbarkeit zeigt das Zelt auch die Bedeutung der Kinderrechte. Sie stehen im Zentrum der Zirkusschule. Aber nicht nur architektonisch ist sie ein Hingucker, der nicht zu übersehen ist. Die Zirkusschule ist auch ein Knotenpunkt im Projekt Netzwerk Kinderrecht des Kinderrechtszentrums Interlagos. Dieses Netzwerk bringt verschiedene soziokulturelle Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen in den Favelas der Region in einer breiten Allianz zusammen. Alle vernetzten Projekte und Initiativen öffnen geschützte Räume für Kinder und Jugendliche, damit sie motiviert durch verschiedene Aktivitätsangebote zusammen finden, ihre Traumata überwinden und alternative Beziehungsformen zu den mannigfaltig erlittenen Formen der Gewalt ermöglichen.

Nazareth: Ich erinnere mich an ein zehnjähriges Kind. Es war langjähriges Opfer häuslicher Gewalt. Es war zwar immer da, sprach aber mit niemandem, nahm an keiner Aktivität teil. Es rannte nur im Raum herum und war sehr aggressiv. Bei Gewaltopfern stellen wir das sehr oft fest. Sie sind zutiefst traumatisiert, vertrauen niemandem und kapseln sich Schutz suchend durch Aggressivität ab. Das sind oft sehr hohe Mauern und es braucht viel Kraft, diese Mauern zu überwinden. Das Kind öffnet sich erst nach der Einsicht, dass es sich nicht durch Aggressivität schützen muss, dass es in diesem Raum geschützt und vor jeder Gewalt sicher ist. Das ist immer ein langer und schwieriger Prozess.

Favela in der Südzone von São Paulo, Brasilien.

Roselane: Ja, Gewalt ist das zentrale Stichwort. Wenn wir durch die Strassen und Gassen der Favelas gehen, dann ist die Gewalt eine überall präsente Tatsache. Die häusliche Gewalt ist nur die Bestätigung, dass Gewalt jeden gesellschaftlichen Raum durchdringt und selbst vor der intimen Sphäre der Familie keinen Halt macht. Die Familie ist das letzte Glied in einer langen Kette der Gewalt. Kinder und Frauen sind ihre häufigsten Opfer. Das Leben in den Favelas ist hart. Es fehlen Strukturen, welche Grundrechte sichern könnten: würdiger Wohnraum, ausgewogene Ernährung, soziale Sicherheit, anständig entlöhnte Arbeitsmöglichkeiten. Alle müssen um ihr unmittelbares Überleben kämpfen. Die Familien stehen unter Stress, der noch zusätzlich durch die repressiv agierende Militärpolizei vertieft wird. Die soziale Ungleichheit Brasiliens ist weltweit bekannt. Und diese verschiedenen Ausdrucksformen der Gewalt sind ihr direktes Resultat.

Nazareth: In der Zirkusschule versuchen wir auf diese Realität Antworten zu buchstabieren. Wir leben von kleinen Erfolgen. Als das Kind, das mit niemandem sprach und sich aggressiv zeigte, plötzlich weinen konnte, war das so ein Erfolgserlebnis. Es konnte plötzlich diese Wand des Misstrauens überwinden, seine Gefühle ausdrücken, sich verwundbar zeigen, ohne Angst immer weiter verletzt zu werden. Sobald dieser Moment gelingen kann, öffnen sich weite Fenster von neuen Perspektiven. Und dann kann es plötzlich sehr schnell gehen. Wenn einmal das Vertrauen und die Sicherheit des Schutzes gefunden sind, dann ist es wie eine gebrochene Staumauer. Das Wasser der verletzten Lebendigkeit stürzt über alles hinweg. Natürlich ist das nie eine einfache, lineare Entwicklung. Es gibt immer Rückschläge, vor allem weil die Ursache der Gewalt ja nicht einfach verschwindet. Aber es entsteht ein Raum, um atmen zu können.

In der Zirkusschule des Kinderrechtszentrums Interlagos, São Paulo, Brasilien.

Frage: Wie organisiert ihr in der Zirkusschule eure Arbeit? Nutzt ihr eine ganz spezifische Methode?

Nazareth: Unsere sicher effektivste Methode ist eigentlich sehr einfach: wir schaffen den Kindern einen Raum, wo sie spielen können, wo sie Kind sein können. Probleme und Konflikte sind dann immer noch präsent, aber sie können adressiert, angesprochen und bearbeitet werden. Das ist ebenfalls eine sehr wichtige Einsicht: es gibt keine problem- oder konfliktfreie Zone, aber es gibt einen geschützten Raum, in dem wir einander vertrauen können, wo wir uns gegenseitig öffnen können, gerade um Lösungsansätze für die komplexe Tatsache der Probleme und Konflikte zu finden.

Roselane: Ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeitsmethode ist die direkte Teilhabe der Kinder und Jugendlichen an der Gestaltung des gemeinsamen Lebensraumes der Zirkusschule und auch der inhaltlichen Elemente unserer Arbeit. Wir haben keinen immer gleichen, von Erwachsenen festgelegten Lehrplan. Wir passen uns immer den Interessen der Kinder und Jugendlichen an. Natürlich haben wir unsere klaren Ziele, die wir mit den Kindern erreichen wollen, aber der Weg dorthin muss notwendigerweise von ihnen selbst mitgestaltet werden. Grob zusammengefasst haben wir verschiedene thematischen Achsen. Weil wir ein Zirkus sind, ist die Zirkuskunst unsere erste und auch wichtigste Achse. Daneben haben wir auch Kultur mit Theater, Tanz, Musik und Perkussion. Aber auch Sport spielt eine sehr wichtige Rolle. Als transversales Thema arbeiten wir immer mit Partizipation, das ist der rote Faden, der durch alles hindurch geht.

Nazareth: Wir wollen mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien gemeinsame Ziele erreichen. Eines der zentralen Ziele ist die Überwindung von Beziehungen, die durch Gewalt geprägt sind. Dieses Ziel ist aber nur möglich, wenn wir gemeinsam beginnen, unsere Lebenswelt, unser Umfeld und die Form des Zusammenlebens zu verändern. Wir arbeiten also immer mit drei Perspektiven: einer individuellen, einer gemeinschaftlichen und einer sozialen. Das Kind muss zu sich selbst finden, es muss lernen, sich zu akzeptieren, trotz der verschiedenen Schwächen und genau wegen seiner immer sehr individuellen Stärken und Potenzialen. Ich kann aber nur zu mir selbst finden, wenn ich mich in einem Netz von Beziehungen eingewoben weiss. Diese verändern sich mit mir, ich gestalte sie mit und sie verändern auch mich. Dieses unmittelbare Beziehungsnetz kann die Familie sein. In vielen Situationen kann aber die Familie das nicht mehr leisten. Wenn dem so ist, müssen wir gemeinsam ein alternatives Beziehungsnetz aufbauen. Und dann ist da noch die dritte, die soziale Dimension. Für uns sind Kinder und Jugendliche immer auch Akteure der Veränderung. Solange Kinder und Jugendliche nur als zu erziehende Wesen wahrgenommen werden, gelingt es nicht, sie in Veränderungsprozesse mit kritischem Blick auf die Wirklichkeit mitzunehmen. Unser Ziel ist es, dass Kinder und Jugendliche ihren Blick auf ihre immer komplexe Realität formulieren und zusammentragen, um diesen auch nach aussen und in die Gesellschaft hinein zum Ausdruck zu bringen. Genau dafür ist der verbindende Rahmen des Projektes ‚Netzwerk Kinderrecht‘ von wesentlicher Bedeutung. Es ist nur möglich, die Realität der Kinder und Jugendlichen zu verändern, wenn es gelingt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die entsprechende Infrastruktur zu verbessern.

Die Zirkusschule ist Teil des Projektes Netzwerk Kinderrecht. Dieses vereint verschiedene Kleinprojekte und lokale Initiativen in Favelas der Region. Auf dem Bild die Capoeiraschule Guaraúna, Südzone von São Paulo, Brasilien.

Frage: Ihr habt formuliert, dass die individuellen Wege sich nie einfach linear entwickeln. Das Umfeld, in dem ihr arbeitet, ist sehr komplex und herausfordernd. Die konkreten Veränderungen sind gleichzeitig sehr langsam. Woher nehmt ihr jeden Tag die Kraft und die Hoffnung, auf diesem Weg unterwegs zu bleiben?

Roselane: Für mich ist eine der entscheidenden Quellen der Motivation die Tatsache, dass ich auch mich selbst als immer lernende wahrnehme. Ich arbeite seit vielen Jahren im Kinderrechtszentrum. Bis anfangs Jahr koordinierte ich eine Anlaufstelle des Projektes ‚Treffpunkt Kinderrecht‘. Nazareth ist für mich eine sehr inspirierende Person, die ich zutiefst respektiere. Und als es darum ging, die Koordination der Zirkusschule zu übernehmen, hatte ich schon ein wenig Angst und auch Zweifel, ob ich dieser Herausforderung gewachsen sei. Das Team hat mir aber immer zu spüren gegeben, dass wir das gemeinsam schon schaffen werden und dass sie mir vertrauen. So haben wir anfangs Jahr den Schritt gewagt. Ich glaube, wir alle wachsen mit den Herausforderungen. Und wir sind immer beeindruckt, wie Kinder und Jugendliche trotz ihres jungen Alters gewaltigen Situationen widerstehen und den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft finden.

Nazareth: Genau das ist meine permanente Hoffnungsquelle. Es sind diese kleinen und unscheinbaren Erfahrungen der Veränderung. Ich erinnere mich an ein sechsjähriges Mädchen, das von ihrer Tante in die Zirkusschule gebracht wurde. Bis dahin lebte es vor allem auf der Strasse und dahin wollte es immer auch wieder zurück. Also sprang sie systematisch über den Zaun und kehrte auf die Strasse zurück. Eines Tages sprang sie erneut über den Zaun. Diesmal aber nicht aus der Zirkusschule auf die Strasse, sondern von der Strasse in die Zirkusschule hinein. Jetzt war sie da, bereit den Weg gemeinsam zu gehen. Und was sie mir im Gespräch anvertraute, beschreibt genau das Ziel unserer Arbeit: ‚Alle hatten mich längst aufgegeben, doch hier habe ich Menschen gefunden, die an mich glauben‘. Genau dieser geteilte Glaube an die immer vorhandenen Potenziale sind meine Kraftquelle. Und diese werde ich in der Gestaltung und Weiterentwicklung des Projektes ‚Netzwerk Kinderrecht‘ sehr gut einsetzen können.

In der Zirkusschule des Kinderrechtszentrums Interlagos, São Paulo, Brasilien.

(tuto)