Alles bewegt sich, immer und unaufhaltbar. Die Wellen am Strand überschlagen sich pausenlos, Tag und Nacht. Die Blätter am Baum bewegen sich auch bei scheinbarer Windstille. Die Erde dreht sich ohne Auszeit. Und selbst im Moment unseres Schlafens, wenn wir aus der aktivistischen Vertikale aussteigen und Ruhe finden im Einswerden mit der waagrechten Linie des Welthorizontes, bleiben wir dennoch immer in Bewegung. Wir verarbeiten Erfahrungen und Erlebnisse in Träumen, drehen uns hin und her, das Herz bewegt sich in pulsierendem Rhythmus.
Alles bewegt sich und durch Bewegung geschieht Veränderung. Ein Schritt und wir sind nicht mehr am selben Ort, hat bereits vor vielen Jahren der brasilianische Musiker Chico Science gesungen. Nicht zufällig ist das Wort ‚Weg‘ im Begriff Bewegung eingebettet. Wir bewegen uns auf dem Weg zu immer neuen Horizonten. Alles und alle sind immer in Bewegung und diese Bewegungen fliessen ein in den unaufhaltbaren Fluss komplexer Veränderungsprozesse. Damit ist Veränderung keine Hoffnung. Sie ist eine alltägliche Tatsache. Die Herausforderung der Hoffnung ist die Richtung des Weges. In welcher Richtung bewegen wir uns? In die Richtung, die Hoffnung greifbar macht, oder in die andere Richtung, die Gewalt, Angst und Not multipliziert?

Die zweite Richtung ist heute vorherrschend. Jeder erkennt das an der Inflation globaler Krisen. Diese Richtung sucht immer schnelleren und immer grösseren Profit, braucht ungleiche Verteilung von Macht, um die Ausbeutung von Mensch und Natur ungestört zu vertiefen, ohne zu begreifen, dass damit am Ast gesägt wird, an dem die ganze Welt hält. Sie stärkt Privilegien für wenige und hierarchisiert die Würde von Menschen. Sagt mit Doppelmoral ja zu den Menschenrechten, aber nur für sich selber, das unmittelbare Umfeld oder das eigene Land. Verteidigt ein lebbares Leben für die Minderheit und verurteilt die Milliarden Menschen im globalen Süden zu einem unlebbaren Leben. Mehr noch: baut massive Mauern und Grenzen. Verunmöglicht damit nicht nur ein Leben in Würde im globalen Süden, sondern verunmöglicht gleichzeitig das Suchen eines lebbareren Lebens anderswo.

Die Richtung der Hoffnung folgt nicht den Architekten der Mauern, sondern baut Brücken, versucht Menschen in ihrer Gleichwertigkeit zu verbinden. Menschen sind keine selbstgenügsamen Figuren, die unabhängig und immer autonom durch das Leben gehen. Wir alle sind Glieder im Netz des Lebens und teilen die alle einende Bedingung der Verletzlichkeit. Kein Mensch kann allein menschlich sein. Kein Mensch kann menschlich sein, ohne mit anderen gemeinsam und unter den Voraussetzungen der Gleichheit zu handeln. Alle Menschen haben ein Recht auf Anerkennung, ein Recht auf ein lebbares Leben in einer wohnlichen Welt.
Diese Richtung des Weges ist keine naive Illusion. Sie ist eine reale Möglichkeit, die an sehr vielen Stellen auf der Welt umgesetzt wird. Und ich bin überzeugt, dass gerade die weltweite Welle autoritärer Regierungen und reaktionärer Bewegungen eine Gegenreaktion auf den Fortschritt des hoffnungsvollen Brückenbauens ist. Die Architekten der Mauern fürchten, ihre Privilegien zu verlieren und multiplizieren den Virus des Verlustgefühls, um möglichst viele in ihren Bann zu ziehen. Es gibt keinen Grund mutlos zu sein. Den Architekten der Mauern gelingt es nie, Mauern ohne Risse zu bauen. Die Geschichte des Zusammenbruchs des Turmes von Babel steht symbolisch für die Gewissheit, dass die Erosion durch Wasser auch die höchsten Felsen und Schlösser der Ungleichheit in langsamen Schritten wegträgt. Langsam verwandelt der Strom der Zeit diese in kleinste Sandkörner und bewegt sie unwiderstehlich in Richtung des waagrechten Horizontes der Flussmündung.

Im August 2025 sind es genau vierzig Jahre, seit ich zum ersten Mal in Brasilien angekommen bin. In all diesen Jahren durfte ich unzählige, Wirklichkeit werdende Hoffnungen erleben. Trotz Ausbeutung und Ungerechtigkeit finden Kinder, Jugendliche und ihre Familien zusammen. Sie lassen sich weder durch Angst noch durch Gewalt entmutigen. Sie geben sich die Hand und bauen gemeinsam am klaren Ziel einer wohnlichen Welt für alle. Auch wenn das alltägliche Leben und Leiden ihnen systematisch den Boden unter den Füssen zu entziehen scheint, bleiben sie dabei: hier sind wir, hier bleiben wir, hier wollen wir leben.
In all den Jahren konnten sich verschiedene, die Hoffnung stärkende Veränderungsprozesse nachhaltig verwurzeln. Die Zusammenarbeit von Novo Movimento mit dem Kinderrechtszentrum Interlagos (in der Südzone von São Paulo) und seinen lokalen Partnerorganisationen (Capoeiraschule Guaraúna oder die Sambagruppe Pagode da 27) war für Novo Movimento die prägendste Erfahrung. Gleichzeitig hat die Unterstützung von Projekten aber auch breitere Netzwerke und Bewegungen erreicht. Die Vereinigung der Volksbewegungen (Central de Movimentos Populares – CMP) und die brasilianische Bewegung der landlosen Bauern (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra – MST) sind die besten Beispiele von unterstützten Allianzen, die in ganz Brasilien tätig sind. Und schliesslich ist die Unterstützung der Organisation SECOYA (Kooperation mit dem Volk der Yanomami – Serviço de Cooperação com o Povo Yanomami) dazugekommen. Mit SECOYA ist Novo Movimento eingetaucht in die herausfordernde Realität im brasilianischen Amazonasgebiet und unterstützt den Kampf des Yanomamivolkes um ihr Überleben und um den Schutz ihres Lebenraumes im amazonischen Regenwald.

In allen Projekten finden Menschen neue Räume des Zusammenlebens. Sie arbeiten trotz aller Schwierigkeiten und oft auch internen Widersprüchen an neuen Formen der Beziehung zueinander, die alltägliche Erfahrungen der Gewalt zu überwinden versuchen. Dies sind immer individuelle und gleichzeitig gemeinschaftliche Prozesse, welche die kleinen Samen des Vertrauens und der Gemeinsamkeit hegen und pflegen. Trotz der Verletzlichkeit dieser kleinen Samen habe sie sich in diesen vierzig Jahren als beeindruckend widerstandsfähig und nachhaltig gezeigt. Auch die vielen Rückschläge und Frustrationen konnten ihr Wachstum nicht zerstören. Im Gegenteil: sie sind gewachsen, haben sich verwurzelt und sind Zeugen der Vorwegnahme der gemeinsamen Hoffnungen. All diese Projekte und Kooperationen wären ohne Eure Präsenz und Unterstützung nie möglich geworden. Das zeigt, dass durch die Projektarbeit von Novo Movimento nicht nur Hoffnung stiftende Veränderungsprozesse in Brasilien Wirklichkeit werden konnten. Auch wir – hier in der Schweiz – konnten durch diese Arbeit Erfahrungen der Selbstwirksamkeit sammeln. Mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sind wir ein gemeinsames Netz von Händen, die versuchen, die Unlebbarkeit von Leben zu reduzieren.

Natürlich ist die finanzielle Unterstützung von Projekten sehr wichtig. Doch die Bedeutung der Unterstützung der Projekte von Novo Movimento geht weit darüber hinaus. Die sichtbare Tatsache internationaler Solidarität, die durch die Projektfinanzierung ihren Ausdruck findet, bedeutet für die lokalen Partnerorganisationen immer auch ein Schutzschild in ihrer Arbeit. Damit können sie lokal zeigen, dass sie nicht isoliert als lokale Akteure dastehen, sondern Teil sind von einem breiten Netz der Zusammenarbeit. Internationale Solidarität ermöglicht lokalen Schutz. Sie schützt vor externen Aggressionen und ist gleichzeitig eine interne Stärkung des Gefühls, nicht alleine auf dem herausfordernden Weg der Projektarbeit unterwegs zu sein. Was die Menschen in den Projekten tun und leisten, bleibt nicht nur ihre unmittelbare Erfahrung. Die Zusammenarbeit macht deutlich, dass sich andere Menschen auf der Welt für ihr Ringen interessieren.
Durch die direkte Unterstützung der Projektarbeit verändert sich aber auch unser eigener Blick auf die Welt. Der gerade heute immer stärker werdende Blick des „Wir und die anderen“ oder noch schlimmer des „Wir gegen die anderen“ verliert an Kraft und Ausdruck. Nähe und Distanz verschieben sich. Die Gesichter von Menschen, die wir noch nie gesehen haben, verlieren die uns systematisch eingeflösste Angst vor den anderen. Menschen, die sich in Tausenden von Kilometern Distanz für die Rechte der Kinder engagieren, werden uns plötzlich nahe. Diese Grenzen überwindende Nähe ermöglicht ein neues Zentrum. Nicht wir stehen im Zentrum. Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist das gemeinsame Engagement für eine Welt, in der wir unter Menschen und mit der Natur ein Zusammenleben lernen, das weder Menschen ausgrenzt noch unsere Lebensgrundlage zerstört. Wie sich dieses gemeinsame Engagement in den Kontext von São Paulo übersetzt zeigen zwei Beispiele: die Erfahrungen von Roselane Mattos und Nazareth Cupertino in der Zirkusschule des Kinderrechtszentrums Interlagos und die Stimmen von Sylvie Petter und Silvio Cavuscens aus der Zusammenarbeit mit dem Volk der Yanomami. Ich danke Euch allen für das Vertrauen und die Unterstützung, die Nähe und Verbundenheit.
Beat Wehrle (tuto)
