Sylvie Petter und Silvio Cavuscens kommen aus der Schweiz. Durch E-CHANGER, einer Organisation der personellen Entwicklungszusammenarbeit mit Sitz in Lausanne, waren sie in Projekten mit dem Volk der Yanomami unterwegs. Die Identifikation mit den Yanomami ist über die Projektdauer hinaus nur stärker geworden. Sylvie und Silvio sind im Kontext des brasilianischen Amazonas definitiv zuhause und erzählen uns von ihrer Zusammenarbeit mit den Yanomami und der schwierigen Aufgabe des Schutzes des Regenwaldes.

Frage: Das Volk der Yanomami ist wie alle indigenen Gemeinschaften Beschützer des Regenwaldes. Wie leben die Yanomami Gemeinschaften?
Sylvie: In ihrer Sprache bedeutet Yanomami ‚Mensch‘. Ihr Verständnis der Welt und ihre Spiritualität sind sehr eng mit dem Regenwald verbunden. Die Beziehung der Yanomami mit ihrer Umwelt ist durch Gegenseitigkeit geprägt. Die Yanomami leben nicht nur im Regenwald, sie nehmen sich als Teil des Regenwaldes wahr. Ihre Lebensweise steht in engster Verbindung mit den verschiedenen Formen des Lebens im Regenwald. Die Gesamtheit ihres Lebensraumes ist für sie heilig. Sie sehen sich nicht als ein von aussen kommendes Subjekt, das den Regenwald ausbeuten kann, sondern sie leben im Gleichgewicht mit den verschiedenen Komponenten ihrer Lebenswelt. Sie sind Teil eines komplexen Lebensnetzes und leben in kleinen Gemeinschaften in grossen, rund angelegten Kollektivhäusern (Xapono), die die autonom funktionierende Gemeinschaft mit einem grossen Innenhof vor externen Gefahren schützt.
Silvio: Die Yanomami sind eine der grössten indigenen Volksgruppen in Südamerika mit beinahe fünfzigtausend Mitgliedern, die in einem Gebiet zwischen Brasilien und Venezuela mit etwa 400 Gemeinschaften präsent sind. In Brasilien leben die Yanomami in den Bundesstaaten Roraima und Amazonas als halbnomadische Gemeinschaften in einem Gebiet, das doppelt so gross ist wie die Schweiz. Die Organisation SECOYA begleitet die Yanomami Gemeinschaften im Gebiet des Rio Negro im Bundesstaat Amazonas. Tatsächlich sind die Yanomami und ihr Lebensraum im Regenwald extrem bedroht. Die bedeutendsten Gefahren sind die systematische Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (unkontrollierte Abholzung und Fischerei) und der massive, illegale Bergbau. In den ersten Monaten der Lula-Regierung wurden 80% der illegalen Goldgräber aus dem geschützten Land der Yanomami vertrieben. Viele haben sich aber im sehr schwer zu kontrollierenden Gebiet festgesetzt, schürfen jetzt meistens nachts und unterirdisch nach Gold und zählen auf die Unterstützung des Drogenhandels. Resultat ist die stark voranschreitende Verschmutzung der Flüsse durch Quecksilber, Abholzung des Waldes und vielfältige Formen der Gewalt gegen die Yanomami Gemeinschaften.

Frage: Das ist ein Konflikt von zwei ganz verschiedenen Lebensperspektiven. Die eine basiert auf Ausbeutung der Umwelt und Akkumulation von Geld und Profit. Der Lebenshorizont der Yanomami jedoch ist durch Gegenseitigkeit und Kohabitation geprägt.
Silvio: Die Beziehung zwischen den Yanomami Gemeinschaften und der sogenannt „zivilisierten“ Gesellschaft ist durch ein asymmetrisches Machtverhältnis und durch eine völlige Respektlosigkeit gegenüber der sozialen Organisationsform und der traditionellen Lebensform der Yanomami gezeichnet. Das produziert nicht nur einen Konflikt zwischen zwei Lebensformen, sondern hat immer auch einen direkten Einfluss auf das alltägliche Leben in den Yanomami Gemeinschaften.
Sylvie: Für die Yanomami ist Omama das Schöpferwesen des Universums. Dieses hat in der Erde Gold und andere Bodenschätze vergraben, die als kleine Splitter des Himmels die Integrität von Himmel und Erde sichern. Darum müssen für die Yanomami die Bodenschätze in der Erde bleiben. Werden sie dem Boden entrissen, zerfällt das Weltgebäude und Gewalt multipliziert sich. Genau so interpretieren die Yanomami die Klimakrise: sie ist Produkt der durch Menschen der Welt angetanen Gewalt. Als Volk des Regenwaldes haben sie einen sehr klaren Blick: die Zerstörung des Regenwaldes und damit ihres Lebensraumes ist der Fussabdruck des weissen Mannes, dem es an Weisheit und Weitsicht fehlt.

Frage: Eure Arbeit mit der Organisation SECOYA (Kooperation mit dem Volk der Yanomami – Serviço de Cooperação com o Povo Yanomami) wird immer durch die direkte Mitarbeit der Yanomami gedacht und gelebt. Wie organisiert ihr diese sehr enge Zusammenarbeit?
Silvio: Tatsächlich ist es für unsere Arbeit wesentlich, mit viel Respekt und immer offenen Ohren mit den Yanomami zusammenzuarbeiten. Mit ihren auf den Dorfgemeinschaften basierenden Organisationsstrukturen arbeiten wir immer sehr eng vernetzt. Für unsere Planung gehen wir immer von den durch die Yanomami formulierten Bedürfnisse aus. Wir planen unsere Aktivitäten ausgehend von ihrem eigenen Kalender mit seinen Feiern, Zeremonien und Versammlungen. Wir müssen mit unserer Agenda immer sehr flexibel sein. Bei einem Todesfall müssen wir natürlich ihre Trauerzeit respektieren. Auch wird die Agenda der Ausbildung von Gesundheitspersonal aus den Yanomami Gemeinschaften oder die Weiterbildung von Fachkräften zur Sicherung von Wasserversorgung und Abwasserentsorgung immer mit den Räten der Dörfer abgestimmt. Dabei geht es bei allen Aktivitäten grundlegend darum, die eigenen Organisationsstrukturen der Yanomami zu stärken. Wir sind für die Yanomami beratende Vertrauenspersonen, die sie begleiten und mit ihnen unterw
Sylvie: Das Projekt des Gesundheitsprogrammes ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Ausgangspunkt ist die in den Yanomami Dörfern gelebte Realität. Das Projekt ist immer präventiv aufgestellt und baut auf den traditionellen Strukturen der Gesundheitsversorgung auf. Jugendliche aus den Dörfern selbst werden ausgebildet und die Umsetzung der verschiedenen Gesundheitsdienste liegt in der Hand der Yanomami. Gleichzeitig bauen wir in fünfzig Dörfern in gemeinsamer Arbeit alternative Systeme der Wasserversorgung auf. Dank verbesserter Qualität des Trinkwassers konnten Durchfallerkrankungen stark reduziert werden, was gleichzeitig zu einer Reduktion der Unterernährung und der Kindersterblichkeit geführt hat. Auch ist die Zusammenarbeit und die Weiterbildung der lokalen Hebammen von sehr grosser Bedeutung. Aber es geht auch um die Teilhabe der Yanomami Gemeinschaften an der Gestaltung und Umsetzung der öffentlichen Gesundheitspolitik.

Frage: Welches sind die wichtigsten Resultate der Projektarbeit von Secoya?
Sylvie: Die Auswertung der Informationen und Daten aus den verschiedenen Dörfern zeigt sehr klar, dass die direkte Beteiligung der Yanomami in der Umsetzung der verschiedenen Projekte die Selbstorganisation der Yanomami bedeutend gestärkt hat. Die Yanomami sind in ihren Dörfern besser organisiert, die Dörfer arbeiten vernetzt und gleichzeitig sind sie Teil der breiten Allianzen der regionalen und nationalen indigenen Bewegung.
Silvio: Ein weiteres für uns sehr bedeutendes Resultat ist das Ausbildungsprogramm von Lehrkräften aus den Yanomami Dörfern. Die ausgebildeten Lehrer haben in intensiver Arbeit ein eigenes zweisprachiges und interkulturelles Grundschulcurriculum erarbeitet, das unmittelbar in ihre Lebenswelt passt und keine ihnen fremde Inhalte vermittelt.
Frage: Welches sind aus eurer Perspektive die dringendsten Herausforderungen für die kommenden Monate?
Sylvie: Die dringendsten Herausforderungen heute sind ökonomischer und politischer Natur. Das Engagement der Yanomami Gemeinden für die Sicherung ihrer Grundrechte wird immer herausfordernder, denn der Druck des Bergbaus und des Agrobusiness nimmt exponentiell zu. Gleichzeitig hat Brasilien heute ein nationales Parlament, das die Anerkennung der indigenen Territorien immer stärker in Frage stellt und auch den Bergbau innerhalb dieser heute geschützten Gebiete legalisieren will.
Silvio: Aus meiner Perspektive ist die grösste Herausforderung für die Yanomami Gemeinschaften, sich weiter für ihre Grundrechte einzusetzen, diese im Kontext der brasilianischen Gesellschaft und seiner staatlichen Institutionen einzufordern und umzusetzen, ohne dabei die eigene Identität der Yanomami zu verlieren.

(tuto)