Die Blätter fallen von den Bäumen, der Herbst hat sich breit gemacht. Jedes Jahr beeindruckt die Farbenpracht. Noch vor wenigen Wochen war das Grün in seinen verschiedenen Intensitäten überwiegend. Jetzt segeln die herbstlichen Blätter in goldgelb, orangewarm und herzrot zum Boden. Die Vielfalt der Farben ist überwältigend. Kein Blatt ist dem anderen gleich, oft die Farben mischend, alle gemeinsam im gleichen, sich jährlich wiederholenden Kreislauf der Jahreszeiten. Vielfalt und Gleichheit begegnen sich, vermischen sich, bedingen sich gegenseitig.

Das Fallen der Blätter legt den Blick auf die Struktur der Bäume frei. Der Stamm verästelt und verzweigt sich in einem dichten, verwobenen Netz von Verbindungen und Beziehungen. Jeder Zweig ist in seiner Eigenheit organisch gewachsen und gleichzeitig bildet die Verflochtenheit von Zweigen und Ästen eine gemeinsame Einheit. Ein Zweig kann allein nicht existieren, er braucht als Teil die Ganzheit des Baumes.

Auch wir Menschen sind keine selbstgenügsamen Subjekte: abgekoppelt, vereinzelt, in sich geschlossen, abgekapselt. Natürlich ist uns die durch Differenz geprägte Individualität sehr wichtig. Aber sie kann nie absolut gesetzt werden. Sie ist nur denk- und lebbar im Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit. Der andere Mensch ist nicht die Grenze meiner Freiheit, gemeinsam sind wir uns Bedingung geteilter Freiheit. „Freiheit in Bezogenheit“ beschreibt es Ina Praetorius, die im Appenzellerland lebende deutsche Theologin.

Die Zerbrechlichkeit der feinen Zweige spiegelt sich in der Verletzlichkeit des Lebens. Genau deshalb bedürfen wir der Verbundenheit. Denn wir teilen eine existentielle, alle Menschen vereinende, universelle Verwundbarkeit. Zwar ist jeder Mensch Träger des Rechtes zur Menschheit zu gehören, doch der Anspruch auf Schutz und Sorge, Sichtbarkeit und Anerkennung ist sehr ungleich verteilt.

Keinem Ast kommt es in den Sinn, begründet in seiner Individualität und Macht, losgelöst vom Ganzen, fünf Meter nach Norden zu wachsen, den erkennbaren Umriss eines Apfelbaumes zu durchbrechen und für sich allein den „Fort-Schritt“, den Austritt aus der gemeinsamen Identität des Apfelbaumes zu suchen. Wachstum bedarf Energie. Wenn die Wurzeln diese aber nur begrenzt ermöglichen können, ist einseitiges Wachstum die Verhinderung gemeinsamer Entwicklung. Gleichzeitig verliert die Statik des Baumes ihr Gleichgewicht und je nach Wind endet das fatal.

Nicht so bei uns Menschen. Unser Lebensbaum ist vollständig aus dem Gleichgewicht. Der kapitalistische Wachstumspfad akkumuliert Gewinn und Profit am Baumwipfel, doch die angehäufte Energie fliesst nicht mehr in die Gesamtheit des Baumes zurück. Stamm, Äste und Zweige werden ihrer Kraft enteignet, sie können ihre Lebensbedürfnisse nicht mehr sichern, die Überlebensbedingungen des Baumes werden zerstört. Und dann wundern wir uns über die Vielfachkrisen unserer Zeit. Das eigentliche Problem sind jedoch nicht die Krisen, das zentrale Problem sind ihre Ursachen. Wir müssen uns auf den Baum besinnen, auf die Grundbedürfnisse des Lebens, auf die nur gemeinsam teilbaren Lebensgrundlagen. Verlieren Menschen (oder die Natur) ihre Lebensbedingungen, entstehen Konflikte und Krisen. Aktion gleich Reaktion lehren die Physiklehrer. Gewalt produziert Gewalt.

Diese ist aber nie das letzte Wort. Das beweist die widerständige Projektarbeit von Novo Movimento auf eindrückliche Weise. Und dank eurer Nähe und Verbundenheit werden wir auch in Zukunft an dieser Hoffnung arbeiten. Ich danke euch allen für die Unterstützung und grüsse euch mit einer herzlichen Umarmung!

Beat Wehrle (tuto)

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