Favela heisst auf Deutsch Elendsviertel, auf Englisch werden sie Slums genannt. Bereits das Wort Favela ist ein schönes Eingangstor in die brasilianische Geschichte. Der Name ist nicht etwa von den prekären Behausungen und improvisierten Wohnviertel abgeleitet. Favela ist der Name eines stacheligen Strauches mit weissen Blüten, dessen Samen kleine Bohnenschoten (fava) bilden. und im Nordosten Brasiliens wächst.
Erst 1888 hat die ursprünglich portugiesische Monarchie in Brasilien als letztes Land Lateinamerikas die Sklaverei offiziell abgeschafft. Im Jahr danach wird die Monarchie durch die erste, alte Republik abgelöst. Eine Zeit scheinbarer Veränderungen, die aber alle die autoritäre Gesellschaftsformation aktualisieren und die Ungleichheit vertiefen. Sklaven werden in die „Freiheit“ entlassen, ohne dass sie Zugang zu Land und Lebensbedingungen bekommen, keine Form der Wiedergutmachung für extreme Unterdrückung und Ausbeutung. In diesem Kontext entstehen verschiedene, von der Struktur der Kirche losgelöste, messianische Bewegungen. Laienprediger versammeln die ums Überleben kämpfenden Menschen und vermitteln Hoffnung auf ein besseres Leben. Einer dieser Wanderprediger war Antonio Conselheiro, der Rat spendende Antonio.

Um 1890 lässt er sich auf dem durch Dürre verwüsteten Grossgrundbesitz Belo Monte (schöner Berg) nieder und gründete das Dorf Canudos (im Landesinnern des Bundesstaates Bahia). Die kleine Gemeinschaft wird sehr schnell zum Magnet für vor Hunger und Elend fliehenden Familien. In wenigen Jahren wächst die Bevölkerung von Canudos auf mehr als 25 Tausend Einwohner an und wird zu einem regionalen, ökonomischen Faktor, der von den etablierten Mächten als Störung wahrgenommen wird. Der Kirche ist Canudos ein Dorn im Auge, weil ihr die Gläubigen davonlaufen. Die aristokratischen Grossgrundbesitzer befürchten weiteren Machtverlust und die junge republikanische Regierung, die auf den Grundmauern der alten Kolonialmacht zu wachsen beginnt, hat Angst vor solchen allzu horizontalen gemeinschaftlichen Experimenten. Dreimal wird Canudos militärisch belagert, kann sich jedoch jedes Mal durch unglaubliche Hingabe seiner Einwohner verteidigen. Zwischen 1896 und 1897 organisiert die Armee die vierte Belagerung. Aus ganz Brasilien werden Soldaten rekrutiert und stark bewaffnet, um Canudos zu zerstören. Frisch angeheuerte Soldaten aus Rio de Janeiro organisieren sich auf einem Hügel in der Nähe von Canudos. Auf dem Hügel hat es sehr viele Favela-Pflanzen und so nennen sie den Hügel ihres Lagers Morro da Favela (Favelahügel). Von allen Seiten angegriffen wird Canudos dem Erdboden gleichgemacht: eine brutale Zerstörung unglaublichen Ausmasses, ein Massaker.

Nach vollbrachter Tat kehren die Soldaten aus Rio de Janeiro in ihre Heimat zurück, um den versprochenen Preis für die schmutzige Arbeit zu erhalten. Die Regierung in Rio hat ihnen Haus und Arbeit versprochen. Doch die Versprechen werden nicht eingehalten, ihr Lohn wird ihnen nie ausgezahlt. So suchen sie frustriert nach Alternativen und lassen sich auf dem Morro da Providência (Hügel der Vorsehung) nieder. Der Hügel hat Ähnlichkeit mit dem Hügel in der Nähe von Canudos und darum nennen sie ihr neues Zuhause ebenfalls Morro da Favela. So entsteht die erste Favela und der Begriff Favela wird schnell Teil des brasilianischen Wortschatzes.
Diese Geschichte aus dem 19. Jahrhundert erklärt nicht nur die Begrifflichkeit Favela. Sie zeigt auch die brutalen und ungerechten Zusammenhänge der durch Kolonialität und Sklaverei geprägten brasilianischen Geschichte. Favelas sind immer Ausdruck des Verrates: Verrat der gemachten Versprechen, Verrat der Menschlichkeit, Ausdruck von Ausbeutung und Enteignung. Favelas sind immer Zeugen des Krieges gegen die Armen und sind immer die Schattenseite der Kumulierung von Macht und Reichtum der herrschenden Eliten.

Die erste Favela ist als Resultat eines Massakers entstanden und die Favelas sind bis heute Schauplatz von wiederholten und systematischen Massakern, wie die desaströse Polizeioperation im vergangenen Oktober in Rio de Janeiro zeigt. Diesmal versuchten Polizeieinheiten in zwei Favelas gegen einen Arm des in Rio de Janeiro aktiven Drogenhandels vorzugehen. Dabei kam es zu einer Eskalation von Gewalt, die über 120 Todesopfer gefordert hat, und die tödlichste Polizeioperation in der Geschichte Brasiliens ist. Die Menschen in den Favelas leiden unter der Gewalt bewaffneter krimineller Banden, aber auch der Polizei. Diese misshandelt und tötet oftmals Kinder und Jugendliche, statt sie zu schützen. Der Drogenhandel versteckt sich systematisch im unüberblickbaren Kontext der Favelas, nutzt die lokale Prekarität aus und rekrutiert Jugendliche für sein „Geschäft“. Obwohl solche repressiven Aktionen gegen den Drogenhandel gerichtet sind, treffen sie vor allem die Bevölkerung der Favelas. Drogenhandel und Drogenkonsum werden durch Repression nicht überwunden. Militärisches Vorgehen unterbricht kurz den florierenden Drogenhandel, zerstört aber nie seine Funktionsstruktur. Polizeigewalt ist nur ein weiterer Dreh in der Spirale der Gewalt.
„Der Drogenhandel entsteht nicht aus dem Nichts. Er wächst dort, wo der Staat nie Hoffnung gesät hat. Er blüht in der Abwesenheit öffentlicher Sozialpolitik, zwischen bröckelnden Mauern und ohne sanitäre Grundversorgung, genährt von Ungleichheit und Erniedrigung. Die Drogenbanden sind das verzerrte Spiegelbild des brasilianischen Kapitalismus: hierarchisch, gewalttätig, gierig nach Profit und Kontrolle. Der Dealer ist der Unternehmer des Untergangs, und der Konsument in den reichen Vierteln sein unsichtbarer Investor. Es gibt nichts zu feiern. Eine Polizeioperation mit 121 Toten ist kein Sieg, sondern eine zivilisatorische Niederlage. Bei jeder Polizeirazzia, die die Favela als Feindesland behandelt, wächst die Distanz zwischen öffentlicher Hand und Bevölkerung. Auf blutgetränktem Boden der Peripherie lässt sich kein Frieden bauen.
Der Drogenhandel ist ein Übel und gedeiht, wo der Staat nie mit Sicherheit und sozialpolitischen Angeboten präsent war. Die Favelas leiden unter mangelnden Schulen, fehlender sanitärer Grundversorgung, schlechtem Verkehr, kaum Kultur- und Sportangeboten, Arbeitslosigkeit und fehlenden Lebensperspektiven. Die Banden füllen das Vakuum jahrzehntelanger staatlicher Unterlassung. Sie sind das perverse Spiegelbild eines Systems, das ausgrenzt, erniedrigt und danach die Ausgegrenzten kriminalisiert.“
Frei Betto, Dominikaner und brasilianischer Befreiungstheologe, über das Massaker in den Favelas von Rio de Janeiro
Gewaltsamer Tod ist in ganz Brasilien nach wie vor die häufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Im Jahr 2023 kam es zu über 45 Tausend im Land registrierten Morden. Beinahe 50% der Opfer sind Jugendliche. Im Jahr 2024 haben 6 Tausend Menschen ihr Leben infolge Polizeigewalt verloren. 82% der Opfer waren Afrobrasilianer:innen. In ganz Brasilien ist im vergangenen Jahr die Zahl der Opfer zwar um 4% gesunken, in São Paulo ist sie um über 60% gewachsen. Und ein wichtiges Detail: die Gouverneure sowohl von Rio de Janeiro als auch von São Paulo sind Anhänger des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, auf den ich später noch zu sprechen komme. Weiterhin ist die brasilianische Militärpolizei laut vorliegenden Statistiken mit Abstand die gewalttätigste weltweit. Sie tötet jeden Tag im Schnitt 17 Menschen.
„Wenn sich nichts ändert“, sagt eine Mutter am Tag nach der Polizeioperation in den Favelas von Rio de Janeiro, „sind die Kinder von heute die ermordeten Opfer von morgen“. Diese brutale Wirklichkeit muss sich ändern. Damit sie sich ändert, setzt die Projektarbeit von Novo Movimento genau in diesem durch Gewalt gezeichneten Kontext an: mitten in den Favelas der Südzone von São Paulo. Schon die Prekarität der improvisierten Behausungen sind eine Gewalt gegen die Menschenwürde: enge nur sehr schwer zugängliche Gassen ohne jegliche Postzustellung, stinkende Abwasserkanäle, die sich zwischen den aneinandergedrückten Hütten durchdrängen, sengende Hitze unter den tief liegenden Eternitdächern. Die alltäglich erfahrene Gewalt hat unzählige Gesichter und bewegt sich wie eine Spirale, die strukturell Menschen erniedrigt und ausgrenzt und sich gleichzeitig in allen menschlichen Beziehungen reproduziert. Am Ende der Spirale stehen Frauen und Kinder. Doch gerade sie sind es, die den Horizont der Hoffnung mitten im Leben der Favela dennoch greifbar machen. Die Favelas sind nicht nur ein Ort des Leidens. Sie sind auch ein Ort des Widerstandes, der Kreativität, der Gemeinsamkeit und der Hoffnung. Aber nie eine abstrakte Hoffnung, unnahbar und entfernt. Die in der Projektarbeit wahrnehmbare Hoffnung ist fragil und dennoch konkret. Sie ist ein offenes Ohr, ein einfühlsamer Blick, eine Kraft gebende Umarmung. Kleine Gesten, die sagen, dass niemand ganz allein und nichts vollständig verloren ist.
(tuto)
