13. Mai 2018: genau vor 130 Jahren hat die portugiesische Krone in Brasilien die Skaverei offiziell beendet. Damit ist Brasilien das letzte lateinamerikanische Land, das diesen formellen Schritt auf dem Papier tat. In Wirklichkeit wirken die Folgen der Sklaverei bis heute nach und sind immer noch das strukturierende Element der gesellschaftlichen Wirklichkeit dieser neuntgrössten Volkswirtschaft der Welt. Die extreme soziale Ungleichheit, die Brasilien spaltet, ist dafür der sichtbarste Beweis.
Ein einiges Brasilien hat es in der fünfhundertjährigen Geschichte dieses kontinentalen Landes nie gegeben. Seit Jahrhunderten herrschen Regierungen, die nicht die Interessen von Land und Menschen vertreten, sondern sich lediglich um ihre eigenen, elitären Interessen kümmern. Weltweit dominieren 1% der Superreichen die Hälfte von Einkommen und Reichtum. In Brasilien liegt dieser Anteil bei gerade 0,05, das entspricht knapp 100.000 Superreichen in einem Land mit 200 Millionen Einwohnern. Brasilien ist deshalb seit eh und je tief gespalten – ein Land, in dem hohe Mauern und ein gewaltiger Repressionsaparat die reiche Elite vor der entrechteten Mehrheit schützen. Doch diese kleine Oberschicht lebt nicht auf einer weltfremden Insel. Im Gegenteil: Sie ist bestens vernetzt mit den herrschenden Kräften des Globalkapitalismus und agiert als dessen Handlangerin.
Als ich 1985 in Brasilien ankam, war das Ende der Militärdiktatur (1964-1985) erst ein paar Monate alt. Damals begann eine Zeit der Hoffnung: Der Aufbau des Kinderrechtszentrums Interlagos, die Solidaritätsarbeit mit der brasilianischen Landlosenbewegung und der nationalen Vereinigung der Volksbewegungen. Zentraler Ausdruck dieser Periode ist einerseits die neue brasilianischen Bundesverfassung von 1988, die erstmals die sozialen Rechte der Bevölkerung in ihr Zentrum stellte, und andererseits die Regierungen der Arbeiterpartei von Lula und Dilma (2003-2016), welche erstmals die Umsetzung dieser sozialen Rechte als staatliche Priorität umzusetzen begannen.
So bin ich selber ein Kind dieser Zeit, während der unzählige Hoffnungen in Erfüllung zu gehen schienen. Das Leben in der Favela do Autódromo in der Südzone von São Paulo, die Mitarbeit an der Stärkung der brasilianischen Zivilgesellschaft und der Aufbau von Netzwerken zur Konsolidierung der Jahrhunderte lang verletzten Menschenrechte sind Teil meines persönlichen Werdeganges. Hunderte Kinder, Frauen und Männer haben mich auf diesem Weg geprägt: ihr Widerstand gegen Gewalt und Unterdrückung, ihr Glaube an eine menschenwürdige Zukunft, ihr Einsatz für eine andere, mögliche Welt.
Doch genau dieser Weg der Veränderungen wird seit August 2016 systematisch blockiert. Durch manipulierende Medien, einen voll und ganz korrupten Kongress und eine absolut parteiische Justiz wurde ein schleichender Staatsstreich inszeniert, der mit der umstrittenen Absetzung von Dilma Rousseff im August 2016 begann und seinen vorläufigen Höhepunkt anfangs April 2018 mit der Inhaftierung von Lula, dem zwischen 2003 und 2010 sehr erfolgreich amtierenden Arbeiterpräsidenten, erlebte.
Seit August 2016 hat mit der Übergangsregierung des Putschpräsidenten Michel Temer wieder das neoliberale und rechtskonservative Lager die Oberhand gewonnen. Der neue Kurs wird durch unzählige «Reformen» in rasantem Tempo durchgesetzt:
• Die staatlichen Sozialausgaben im Bildungs- und Gesundheitsbereich wurden für die nächsten 20 Jahre eingefroren.
• Ein menschenrechtlicher Rückwärtstrend ist überall klar sichtbar: soziale Bewegungen werden zunehmend kriminalisiert, und die willkürlichen Übergriffe des Sicherheitsapparates nehmen massiv zu. Aktueller Höhepunkt ist die Besetzung von Rio de Janeiro durch die brasilianische Armee.
• Die wirtschaftliche Liberalisierung durch die massive Flexibilisierung des Arbeitsrechtes und die systematische Privatisierung und Entnationalisierung strategischer Sektoren setzt erneut auf die klassische Agenda des Neoliberalismus, hat aber die Wirtschaftskrise in keiner Weise überwunden, im Gegenteil: die Krise ist tiefer denn je.
Die Folgen dieses schleichenden Staatsstreiches sind eine riesige Demokratiekrise und eine systematische Verschlechterung der sozialen Indikatoren. Allein in São Paulo ist die Zahl der Menschen in extremer Armut seit August 2016 um 20% gestiegen. Auf nationaler Ebene ist die Kindersterblichkeit nach jahrelangen Reduktionen wieder um 11% gewachsen. Hatte die Arbeitslosigkeit bis 2015 einen rekordmässigen Tiefpunkt erreicht, hat sie sich seither mehr als verdoppelt.
Der zynische Charakter dieses schleichenden Staatsstreiches verbirgt sich hinter dem medialen Feuerwerk der scheinbaren Korruptionsbekämpfung. Die wirklich korrupte Mafia ist heute an der Macht, und Lula sitzt dank einem reinen Indizienprozess ohne jegliche Beweise im Gefängnis. Das einzige Ziel seiner Inhaftierung ist die Verhinderung seiner erneuten Kandidatur im Wahlkampf 2018 für das Präsidialamt. So ist Lula faktisch der erste politische Gefangene seit der brasilianischen Redemokratisierung. Doch trotz seiner Inhaftierung bleibt er in allen Wahluntersuchungen an erster Stelle mit über 30% der Wahlintentionen. In allen Szenarien würde er den zweiten Wahlganges mit mehr als 60% der Stimmen gewinnen.
In Brasilien wächst der Widerstand. Weltweit werden die kritischen Stimmen immer zahlreicher und selbst Papst Franziskus hat die in Brasilien angewandte Methodik schleichender Staatsstreiche «durch die Negativ-Spirale der Verleumdung» mutig angeprangert.