Strassen sind Wege, die verbinden. Durch sie laufen Menschen, fahren Autos, Busse, Lastwagen. Strassen ermöglichen Wechselwirkungen, die unseren Alltag wesentlich prägen. Durch Strassen gehen wir, über Strassen kommen wir zurück nach Hause. Strassen ermöglichen Beziehung, Austausch. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Stadtplan von São Paulo, bevor all diese Informationen digitalisiert waren und jetzt am Handy abrufbar sind. Der Stadtplan von São Paulo war ein bibeldickes Buch mit hunderten Kartenseiten und einem endlos scheinenden Strassenverzeichnis.
Beim Abflug von São Paulo wird die Komplexität des ganzen Strassennetzes noch sichtbarer: ein undurchschaubares Durcheinander von kleinen Wegen, riesigen Avenidas, Kreuzungen und Brücken. So gross, so komplex und so undurchschaubar, dass eben Strassen in São Paulo auch zu einem grossen Risikofaktor werden. Mit dem Velo unterwegs zu sein, braucht enormen Mut, Fussgänger haben ein schweres Leben. Alles zirkuliert hastig, die Avenidas sind meist verstopft, jeder rennt seinem Eigeninteresse nach, keiner sieht die anderen.
Die elfjährige Mariana lebt mit ihrer Familie an einer engen Strasse im Bezirk Grajaú, Südzone von São Paulo. Ihre Grossmutter lebt direkt auf der anderen Seite der Strasse und immer wurde ihr beigebracht, wie die Strasse zu überqueren sei. Als kleines Kind durfte sie nie alleine zur Grossmutter, doch heute schafft sie das ohne Probleme. «Ich geh schnell zur Grossmutter», rief sie unter der Tür zu ihrer grösseren Schwester. «Kein Problem, das macht sie ja beinahe jeden Tag», dachte diese. Doch an diesem regnerischen Abend kam alles anders. Mariana schaute auf beide Seiten. Wegen dem Regen war die Strasse früher als normal schon beinahe leer. Nur ein Motorrad raste vor ihr durch, Mariana wartete und überquerte anschliessend die Strasse. Wie immer. Doch der Motorradfahrer bremste plötzlich, wendete um und riss Mariana mit. Nicht weit entfernt von ihrem Zuhause wurde sie vergewaltigt.
Die Strasse ihrer Kindheit wurde Mariana zum Horror. Das immer glückliche und spielende Mädchen verwandelte sich schlagartig und fand kaum mehr die Kraft, aus dem Haus zu gehen. Angst und Unsicherheit wurden immer stärker. Ihre Eltern und Geschwister unterstützten sie, wie sie konnten, doch die im Gedächtnis immer präsente Fratze des Täters war viel stärker. Begleitet durch die Mutter gelangte Mariana zum Treffpunkt Kinderrecht, wo durch Gewalt traumatisierte Kinder und Jugendliche durch das Kinderrechtszentrum begleitet werden. Unzählige Gespräche folgten. Lange fühlte sich Mariana mitschuldig, und sie brauchte mehr als ein Jahr, um sich als Opfer zu erkennen und sich vom Täter zu lösen. Nicht nur die Gespräche mit der Psychologin des Projektteams haben ihr geholfen. Im Singen und Tanzen mit anderen Kinder, ebenfalls Opfer verschiedenster Formen der Gewalt, fand sie langsam zurück zur Mariana, die sie immer gewesen war. Die erlittene Gewalt ist überwunden, das Trauma hat seine Kraft verloren. Nur die Erinnerung bleibt: für immer.
In Brasilien besitzen die sechs reichsten Milliardäre so viel wie die 100 Millionen ärmsten BrasilianerInnen, die Hälfte der Bevölkerung des kontinentalen Landes. Eine so perverse soziale Ungleichheit, wie sie in Brasilien beispielhaft Realität ist, aber gleichzeitig ein Wesenselement unserer Weltgesellschaft bleibt, kann nur durch Ausbeutung und Ungerechtigkeit möglich werden und kann sich nur durch systematische Gewalt aufrechterhalten. Gewalt ist nie nur ein punktuelles Ereignis, sondern ist immer die Perversion einer Beziehung, die Menschen zu ausgebeuteten Objekten degradiert.
Und weil Gewalt im Netz der Beziehungen entsteht, reproduziert sie sich wie ein Krebs, der schlussendlich immer auch bei Kindern endet, dem schwächsten Glied menschlicher Gemeinschaft, das Schutz und Sicherheit erfahren sollte, aber permanent Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt ist. Mariana besucht heute ihre Grossmutter wieder. Doch hinter dem undurchschaubaren Netz der Strassen und Avenidas von São Paulo verbergen sich unzählige Marianas, die auf eine Hand, auf Unterstützung und Begleitung, auf Vertrauen und Nähe warten.