«Ich heisse Katia Reis und arbeite seit mehr als zehn Jahren im Kinderrechtszentrum Interlagos. Schon als kleines Mädchen war ich in der Baisgemeinde der Favela da Paz aktiv und koordinierte bald die Jugendgruppe der Favela. Diese sozialen Aktivitäten konnte ich aber nicht in mein Berufsleben übertragen, denn ein Studium war nicht möglich. Nach der Grundschule musste ich sofort eine Arbeit suchen, um das Einkommen meiner Familie zu ergänzen. Plötzlich kam das Kinderrechtszentrum Interlagos auf mich zu und bot mir eine Arbeit im Projekt Treffpunkt Kinderrecht an. Meine Aufgabe sei es, sozial verletzliche Jugendliche zu begleiten, um die Familienstruktur zu stärken und neue Lebenshorizonte zu ermöglichen. Ich hatte grosse Angst vor dieser Aufgabe und meinte, nicht genügend vorbereitet zu sein. Aber das Kinderrechtszentrum gab mir Vertrauen und so wagte ich den Schritt.
Nach einem Jahr Arbeit im Kinderrechtszentrum begann ich das Studium der Sozialarbeit, das ich neben meiner Arbeit mit Erfolg abschliessen konnte. Für mich ist das Kinderrechtszentrum nicht nur der Ort meiner Arbeit, es ist für mich eine grosse Lebensschule. Das Vertrauen, das ich gefunden habe, hat mir Mut und Kraft gegeben, mein Potenzial wahrzunehmen und mich auf neue Herausforderungen vorzubereiten.
In der Begleitung von Jugendlichen und ihren Familien war ich immer im Rahmen der Favelas der Südzone von São Paulo unterwegs, die ich aus meinem eigenen Leben sehr gut kenne: das materielle Elend; Alkohol und Drogen als Flucht vor der Wirklichkeit; die gesellschaftliche Gewalt der sozialen Ungleichheit, welche sich immer auch in den familiären Beziehungen spiegelt; die Schwierigkeit, als Kind der Favela in Schule und Berufsausbildung vorwärts zu kommen.
In den unzähligen Besuchen bei den vielen begleiteten Familien lernte ich viele, durch massive Gewalt gezeichnete Lebenswege kennen und verstand immer besser, wie die systematische Verletzung von Menschenrechten den Teufelskreis der Gewalt ins Rollen bringt und beschleunigt. Eigentlich wollen Kinder und Jugendlichen gar nicht viel: sie wollen ernst genommen werden, sie suchen nach Raum und Platz, wo sie spielen und ihre Kreativität entwickeln können, sie suchen Möglichkeiten und Chancen, sich als Menschen zu entwickeln. Und genau dies versuchen wir im Kinderrechtszentrum, den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.
Nie versprechen wir ihnen eine heile Welt. Immer geben wir ihnen selber die Verantwortung in die Hand, um an der Veränderung ihrer Lebenswelt und an der eigenen, persönlichen Neuausrichtung zu arbeiten. Natürlich werden Lebenswege durch das Umfeld geprägt und bedingt, nie aber bestimmt. Nie ist es zu spät, Veränderungen zu versuchen und zu wagen. Nicht immer gelingt es, die Kurve zu einem veränderten Leben zu finden. Oft musste ich mit der Frustration leben, Jugendliche an den Drogenhandel zu verlieren, weil sie keine anderen Chancen fanden oder keine Alternativen sahen. Viele sind in dieser Spirale der Gewalt gestorben, ermordet durch die Drogenhändler, meist aber erschossen durch die Militärpolizei. In der Favela Jugendlicher zu sein, ist schlicht und einfach gefährlich. Für die Militärpolizei sind Jugendliche aus der Favela prinzipiell suspekt, auch wenn sie keinerlei Beziehungen zum Drogenhandel haben.
Nach dieser ersten beruflichen Erfahrung übernahm ich bald die Koordination der Begleitung von Kindern und Jugendlichen, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden waren. Diese Erfahrung hat mich entscheidend geprägt. Ich habe gelernt, wie die perverse soziale Ungleichheit Brasiliens den Menschen nicht nur den Zugang zu Gesundheit, Bildung und Beruf erschwert. Sie bremst die Entwicklung des Lebens, zerstört menschliche Potenziale. Ja, soziale Ungleichheit tötet. Sie zerstört Beziehungen in den Familien und die schwächsten Glieder in der Kette menschlicher Beziehungen sind zuerst die Frauen und dann die Kinder. Eine Familie, in der es zu sexuellem Missbrauch kommt, ist immer auch eine Familie, die durch gesellschaftliches Ungleichgewicht geprägt ist.
Mit Opfern und Tätern, die immer auch Opfer ihres Umfeldes oder ihrer Geschichte sind, am Aufbau neuer Lebensperspektiven ohne Gewalt und Ausbeutung zu arbeiten, ist eine riesige Herausforderung. Doch die Erfahrung im Kinderrechtszentrum zeigt, dass sehr viele Erfolgsgeschichten möglich sind, die aber lange Prozesse der Begleitung brauchen, um die Ursachen der Gewalt zu überwinden.
Seit Januar 2018 bin ich jetzt die Projektkoordinatorin im Kinderrechtszentrum. Einerseits freue ich mich, als im Zentrum gewachsene, neue Generation Leitungsaufgaben übernehmen zu können. Andererseits macht mir der aktuelle Kontext Brasiliens riesige Sorgen. Um die beiden Projekte des Kinderrechtszentrums (Treffpunkt Kinderrecht und Netzwerk Kinderrecht) aufrecht halten zu können, sind wir auf die Mittel lokaler Regierungsstellen angewiesen. Das scheint mir auch richtig so, denn auf keinen Fall soll das Kinderrechtszentrum die eigentlichen Aufgaben des Staates übernehmen oder die fehlende Verantwortung des Staates kompensieren. Unser Aufgabe ist es immer, Stachel zu sein, Missstände aufzuzeigen, auf Mängel in der Sozialpolitik hinzuweisen und durch konkrete Projekte wegweisende Alternativen zu erschliessen.
Und da haben wir in der aktuellen Situation einen ganz schwierigen Stand. Denn die nationale Krise ist natürlich auch auf der Ebene der Gemeinden stark spürbar. Die in Sozialpolitik investierten Mittel nehmen ab, und die sozialen Bedürfnisse nehmen zu. Und zwischen diesen beiden Fronten steht das Kinderrechtszentrum, das mit immer weniger immer mehr leisten muss. Die Kürzungen bei der Sozialpolitik führen dazu, dass unsere Projektarbeit mit immer weniger Mitteln geleistet werden soll. Und immer häufiger stehen wir vor der Frage, ob wir in diesem immer prekärer werdenden Kontext weiter gute Sozialarbeit leisten können, die Opfer der Gewalt würdig begleitet (Treffpunkt Kinderrecht) und gleichzeitig in den Favelas vor Gewalt und Ausbeutung geschützte Räume für soziokulturelle Arbeit öffnet (Netzwerk Kinderrecht).
In den vergangenen Jahren hat das Kinderrechtszentrum Wissen produziert und Erfahrung gesammelt, die beweisen, dass Gewalt keine Fatalität ist. Sie kann überwunden werden. Menschen können sich individuell und gemeinschaftlich entwickeln. Sie brauchen nur Begleitung, Vertrauen und reale Chancen. Das Kinderrechtszentrum hat konkrete und mögliche Wege gefunden. Darum lassen wir uns nicht dabei behindern, mutig und hoffnungsvoll weiter auf diesem Weg zu bleiben.»