Natürlich sitzt der Schock über die Wahl von Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten Brasiliens vom vergangenen Sonntag (28. November 2018) noch immer tief. Trotzdem versuche ich in den kommenden Zeilen, etwas Abstand zu nehmen, um die Wahl des rechtsextremen Kandidaten wenigsten teilweise verstehen zu können.

Bis Ende August führte Luis Inácio Lula da Silva, der sozial ausgerichtete, ehemalige Präsident Brasiliens (2003 bis 2010) alle Wahluntersuchungen mit bis zu 40% der Wahlintentionen an. Am 28. November 2018 gewinnt der rechtextreme Kandidat Jair Bolsonaro mit der Unterstützung von 39% aller Stimmberechtigten die Wahlen. Was ist zwischen Ende August und Ende November – also innerhalb von drei Monaten – in Brasilien geschehen?

Kundgebung mit Fernando Haddad in São Luís, Maranhão, Bild: Ricardo Stuckert

Anfangs April 2018 wird Lula durch den Bundesrichter Sergio Moro in einem international als skandalös wahrgenommenen Prozess verurteilt und anschliessend inhaftiert. Dennoch hält die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) die Kandidatur Lulas aufrecht und versucht mit allen möglichen Mitteln, seinen Ausschluss aus dem Rennen um die Präsidentschaft zu verhindern. Starke Unterstützung bekommt Lula von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die vom Brasilianischen Staat verlangt, die politischen Rechte Lulas zu respektieren. Das oberste Wahlgericht Brasiliens nimmt die verbindliche Forderung der UN-Menschenrechtskommission nicht ernst und schliesst Lula von der Wahl aus. Fernando Haddad springt für Lula ein, startet mit 4% der Wahlintentionen, erreicht überraschend den zweiten Wahlgang und verliert schlussendlich die Stichwahl vom vergangenen Sonntag gegen Jair Bolsonaro.

Fernando Haddad in der Favela Heliópolis, São Paulo – Foto: Ricardo Stuckert

Fernando Haddad, der ehemalige Bildungsminister von Lula und Stadtpräsident von São Paulo, mobilisiert einen beeindruckenden Blitzwahlkampf und vereint farbenfrohe Massen in ganz Brasilien. Eine wirklich breite Parteiallianz zur Verteidigung demokratischer Werte kommt aber nur halbherzig zustande, zu gross ist der persönliche Stolz von jenen, die im ersten Wahlgang als klare Verlierer hervorgehen. Doch die Mobilisierung auf den Strassen ist beeindruckend: wo immer Fernando Haddad auftaucht, finden sich tausende Menschen zusammen. Ohne Aufruf von Parteien gehen ebenfalls Frauen und Jugendliche auf die Strasse und schreien #elenão («er nicht») und mobilisieren sich gegen Rasismus und Gewalt. Ihnen allen ist die Überzeugung gemeinsam, dass mehr Waffen nie weniger Gewalt produzieren, dass es die junge Demokratie vor der Autoritarismusorgie zu schützen gilt, dass Hass und Vorurteil die freundschaftliche Kultur Brasiliens nicht zerstören dürfen… Und Fernando Haddad wächst tatsächlich permanent in allen Wahluntersuchungen, doch schlussendlich ist die Zeit zu kurz, die erhoffte Wende kommt nicht zustande.

Denn gegen diesen beeindruckenden und lebensfreudigen Strom setzt sich gleichzeitig eine massive Hass- und Lügenkampagne in Bewegung. Die Begleitung des Bolsonaro Wahlkampfteams durch Steve Bannon (der ebenfalls rechtsextremen Berater von Donald Trumps Wahlkampf) zeigt Früchte. Im Fernsehen setzt er in seinen Wahlspots auf Hass und Hetze, auf Härte und Repression. Die Beteiligung an den verschiedenen geplanten Fernsehdebatten mit Fernando Haddad verweigert er total. Aber sein effektivstes Instrument des Wahlkampfes bleibt voll und ganz unsichtbar: eine breit angelegte und ilegal finanzierte Kampagne über die sozialen Medien. Nicht in erster Linie über Facebook, sondern vor allem über WhatsApp. Unternehmer kaufen illegal Telefondaten ein und finanzieren ebenfalls illegal die millionenfache Verbreitung von Lügen gegen Fernando Haddad, gegen die Arbeiterpartei, gegen die sozialen Bewegungen und die Menschenrechte.

Trotzdem wächst Fernando Haddad konstant, doch eben nicht so schnell, wie es nötig gewesen wäre, um Bolsonaro zu schlagen. 39% aller Wahlberechtigten geben diesem schliesslich ihre Stimme. 32% wählen Fernando Haddad und 29% enthalten sich oder geben eine ungültige Stimme in die elektronische Urne. Mit anderen Worten sind 39% der Wahlberechtigten für Bolsonaro und 61% dagegen. 55% der gültigen Stimmen für Bolsonaro und 45% für Fernando Haddad.

Schon am Montag, 29. Oktober 2018, beginnt die Vorbereitung für die Amtsübernahme der neuen Regierung. Gestärkt durch den massiven Rechtsrutsch kündigt der brasilianische Kongress mögliche Veränderungen an, die wahrscheinlich noch dieses Jahr durchgepeitscht werden. Die sozialen Bewegungen sind bedroht, noch massiv stärker kriminalisiert zu werden. Der Waffenbesitz soll in wenigen Tagen stark erleichtert werden, und die öffentliche Pensionskasse Brasiliens soll noch diese Jahr gemäss dem Modell Chiles der achziger Jahre privatisiert werden.

Und jetzt der Höhepunkt von heute (1. November 2018): der Bundesrichter Sergio Moro, der Lula in einem absurden Prozess verurteilte, hat heute die Einladung, Justizminister der neuen Regierung zu werden, angenommen. Laut Recherchen der lokalen Presse soll Moro diese Einladung bereits vor der Inhaftierung von Lula bekommen haben. Und damit wird klar und deutlich, dass Brasilien nicht nur eine extrem autoritäre Regierung droht. Die brasilianische Demokratie funktioniert schon lange nicht mehr, die Gewaltentrennung ist in keiner Weise gewährleistet. Ein Richter enscheidet sich für eine persönliche politische Option, wirft Lula, den grössten Gegenspieler seines Kandidaten aus dem Wahlkampf, und bekommt von seinem siegenden Kandidaten als Belohnung das Amt des Justizministers. Gleichzeitig versteckt er seine zum Himmel schreiende Parteilichkeit mit dem Anschein der Bekämpfung der Korruption und des organisierten Verbrechens. Einmal mehr ist das deklarierte Medikament die Krankheit selber. Die brasilianische Justiz verliert ihre Glaubwürdigkeit, die Demokratie wird zur Farce.

Kundgebung #elenão in Bogotá

Eine dunkle, gewaltige Nacht legt sich über Brasilien. Doch trotz allem wächst der Widerstand und lässt sich durch Bedrohung und Gewalt nicht kleinkriegen. Und mit der Notwendigkeit des demokratischen Widerstandes wächst auch die Wichtigkeit internationaler Solidarität mit den sozialen Bewegungen Brasiliens, die durch die neue Regierung als Terroristen abgestempelt werden. Die Zukunft ist düster, doch die Kraft der Hoffnung bleibt. João Paulo Rodrigues, Mitglied der nationalen Koordination der brasilianischen Landlosenbewegung bringt es auf den Punkt: «In der fünfhundert Jahre alten Geschichte Brasiliens war das Volk nur gerade dreizehn Jahre an der Macht. Mit anderen Worten sind wir es uns gewohnt, Widerstand gegen Autoritarismus, Repression und Gewalt zu leisten. Und genau das werden wir tun!»

weitere Artikel über die Wahlen in Brasilien:
Zeit online: Ab wann ist Diktatur?
WOZ: Die Rechten und die Überflüssigen
Amerika21: Bolsonaro stellt ‚Brasilien über alles‘

Bilder: Ricardo Stuckert – fotospublicas.com und Mídia Ninja,
ebenfalls mit Bildern von Kundgebungen #elenão in Zürich und Bogotá.

tuto – b.wehrle@novo-movimento.org

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