Sergio Ferrari (Übersetzung Romeo Rey)

Buch von ehemaligen argentinischen politischen Gefangenen wird in Brasilien veröffentlicht: Buchvernissage am 9. Oktober in São Paulo, Brasilien

Die Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses als Gegenmittel gegen die Wiederholung der in Lateinamerika während der Diktatur erlebten Grausamkeiten: Dies ist die Prämisse einer Gruppe ehemaliger politischer Gefangener aus dem Coronda-Gefängnis in Santa Fe, Argentinien, die am 9. Oktober Nem loucos, nem mortos (Weder verrückt noch tot) vorstellen werden, ein von mehr als 70 von ihnen verfasstes Zeugnisbuch, das jetzt auf Portugiesisch von Editorial Expressão Popular de São Paulo veröffentlicht wird.

Damit wird das kollektive und anonyme Werk von 350 Seiten mit zahlreichen Farbfotos und Zeichnungen seine brasilianische Feuertaufe erleben: genau 20 Jahre nachdem die erste Ausgabe auf Spanisch in Argentinien vorgestellt wurde.

Im Jahr 2003 veröffentlichte das Kollektiv El Periscopio, in der eine große Gruppe ehemaliger Häftlinge aus Coronda – wo während der Diktatur 1.153 Häftlinge inhaftiert waren – zusammengeschlossen ist, Del otro lado de la mirilla. Olvidos y memorias de ex presos políticos de Coronda 1974-1979.

Das Buch, das jetzt ins Portugiesische übersetzt und angepasst veröffentlicht wird, befindet sich nicht nur in der dritten Auflage auf Spanisch mit mehr als 11.000 verkauften Exemplaren, sondern es ist auch in weiteren Sprachen im Umlauf. Im Jahr 2020 wurde es auf Französisch unter dem Titel Ni fous, ni morts (Editorial de l’Aire, Vevey, Schweiz) veröffentlicht, das derzeit vergriffen ist, und 2022 auf Italienisch unter dem Titel Grand Hotel Coronda im Verlag Albatros Il Filo mit Sitz in Rom.

Die Leidenschaft der Erinnerung

Seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe im Jahr 2003 hat Del otro lado de la mirilla sowohl in Argentinien als auch in Europa große Resonanz gefunden. Der Vertrieb in Lateinamerika und insbesondere die portugiesische Version waren jedoch weiterhin ein Problem für das Kollektiv El Periscopio.

Nem loucos, nem mortos ist ein kollektives Zeugnis über die Erfahrungen in einem der Hochsicherheitsgefängnisse in Argentinien während der letzten zivil-militärischen Diktatur. Der Humor kommt dabei nicht zu kurz, und es gibt viele Beispiele für den täglichen Widerstand der damals Inhaftierten. Es ist vielleicht das erste Buch dieser Art, das in Lateinamerika veröffentlicht wurde, das Ergebnis der Arbeit einer großen Gruppe von Co-Autoren, die sich in dieser Vereinigung zusammengeschlossen haben.

Im Jahr 2006 diente das Buch als Inspiration für das Theaterstück Coronda en Acción, und während der Covid-19-Pandemie bildete es die konzeptionelle Grundlage für das Projekt Corondaes, eine experimentelle audiovisuelle Produktion, in der jedes Zoom-Raster, das von fünfzehn Schauspielern geteilt wird, digital eine Zelle in diesem argentinischen Gefängnis darstellt. Es inspirierte auch die Produktion des Kurzfilms Retorno a Coronda (2020), der den Besuch einer Gruppe von acht ehemaligen Häftlingen in diesem Strafvollzugszentrum im Oktober 2019 erzählt und als Einleitung zu jeder Buchvorstellung gezeigt wird.

Für das Kollektiv El Periscopio ist das Engagement für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens zum zentralen Ziel geworden. Auf diese Weise hat es sich mit seiner Praxis, mit den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo, mit anderen Vereinigungen ehemaliger Häftlinge und mit so vielen anderen sozialen Akteuren zusammengeschlossen, die in Argentinien und in der Welt gegen das Vergessen und alle Formen des historischen Obskurantismus kämpfen. Hugo Borgert, Mitglied der Vereinigung, der bei den ersten Präsentationen in São Paulo und Rio de Janeiro das Kollektiv vertritt, betont: „Unser Kampf für die Erinnerung ist ein Kampf gegen das Vergessen und alle Formen des historischen Verdunkelungswahns. Unser Einsatz für die Erinnerung ist eine Leidenschaft und fast schon eine Besessenheit“, erklärt Borgert und betont die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses in einer Zeit, in der einige rechtsextreme Parteien und Präsidentschaftskandidaten in seinem Land, wie Javier Milei, versuchen, die Brutalität der Verbrechen der letzten zivil-militärischen Diktatur zu verharmlosen.

Für Alfredo Vivono, einen ehemaligen politischen Gefangenen, der ebenfalls an dieser ersten Tournee zur Vorstellung von Nem loucos, nem mortos in Brasilien teilnimmt, „ist es eine große Ehre, das Buch in portugiesischer Sprache in Brasilien zusammen mit dem Verlag Expressão Popular zu veröffentlichen, der zu den brasilianischen sozialen Bewegungen gehört, aus dem Herzen der Bewegung der Landlosen Landarbeiter (MST) kommt und einen wichtigen kulturellen und pädagogischen Beitrag zur Stärkung sozialer Akteure in diesem Argentinien so eng verbundenen Land leistet“.

Wir fühlen uns auch geehrt, so Vivono weiter, dass bei der ersten Präsentation in São Paulo Frei Betto, eine Referenzfigur für die sozialen Bewegungen auf dem gesamten Kontinent, und João Paulo Rodrigues von der Nationalen Koordination der Landlosenbewegung anwesend sind, „der uns ein unschätzbares Geschenk gemacht hat, indem er ein Vorwort für die brasilianische Ausgabe unseres Buches geschrieben hat“.

Borgert und Vivono sind sich einig, dass die antidiktatorischen Widerstände der 70er und 80er Jahre heute mit den dynamischsten sozialen Bewegungen Lateinamerikas und ihren aktuellen Utopien und Kämpfen konvergieren. „Wir sind Teil eines lateinamerikanischen Ganzen, das weiterhin nach einem anderen möglichen und notwendigen Kontinent strebt, mit Gerechtigkeit, Gleichheit und Souveränität. Ein Kontinent, der sich die Gleichheit und die Vielfalt der Geschlechter zueigen macht, der die Migranten respektiert, egal woher sie kommen, und der sich den Kampf gegen die Klimakrise und für das Überleben der Erde zu eigen macht“, betont Alfredo Vivono.

Ein bewegender, brasilianischer Blick auf den Widerstand in Argentinien

Im Coronda-Gefängnis wurden Hunderte von Kämpfern, die sich in den 1970er Jahren dem Autoritarismus und der Gewalt der argentinischen Diktatur widersetzten, unter ständigem Terror und Folter festgehalten. „Sie kommen hier nur verrückt oder tot wieder raus!“, war das schreckliche Urteil, das die Folterer mit äußerster Grausamkeit verhängten, erinnert sich João Paulo Rodrigues, Mitglied der Nationalen Koordination der MST, im bewegenden Prolog der brasilianischen Ausgabe. Und er fügt hinzu, dass die Gruppe trotz dieser täglichen Folterungen nicht aufgab, am Leben blieb, Widerstand leistete und später das Kollektiv „El Periscopio“ als Instrument ihres Widerstandes festigte. Sie beschränkten sich nicht darauf, die Erfahrungen des Widerstands aufzuschreiben, sondern betrachteten die kollektive Produktion des Buches stets als ein Instrument ihres Kampfes. Und sie schafften es sogar, vor ordentlichen Gerichten Anklage gegen die beiden Gendarmeriekommandanten zu erheben, die damals Leiter des Coronda-Gefängnisses waren. Im Mai 2018 wurden beide aufgrund ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit in diesem Gefängnis zu 22 und 17 Jahren Haft verurteilt. Die Richter identifizierten das in Coronda täglich angewandte Regime, das auf die physische, psychologische und ideologische Zerstörung der Gefangenen abzielte, explizit als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

In seiner tiefgründigen Betrachtung betont João Paulo Rodrigues, dass Nem loucos, nem mortos „den Horizont der Analyse auf eine lateinamerikanische Perspektive öffnet, einen kollektiven Prozess des Widerstands stärkt und ein Beispiel der Erinnerung hervorhebt, das in eine Bewegung des Kampfes umgesetzt wurde und sogar zur Verfolgung und Verurteilung von staatlichen Folterern führte“.

Dies sei im brasilianischen Kontext noch wichtiger, da hier Hunderte von Verbrechen, die während der Militärdiktatur (1964-1985) von Staatsbeamten begangen wurden, unbestraft blieben. „Brasilien hat seit dem Beginn des Demokratisierungsprozesses fast drei Jahrzehnte gebraucht, um eine Wahrheitskommission (2012-2014) einzusetzen. Deren Bericht ist zwar ein wichtiges Dokument, hat aber nicht zur Bestrafung von Amtsträgern geführt, die schwere Menschenrechtsverbrechen begangen haben“, erinnert er.

João Paulo Rodrigues, Mitglied der Nationalen Koordination der brasilianischen Landlosenbewegung – MST


Rodrigues betont, dass dieses Buch die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für den Prozess der Organisation der Bevölkerung als weiter ausgegrenzte Mehrheit unterstreicht. Und was die Förderung und Verbreitung des Buches angeht, „hoffe ich, dass es als Instrument für eine breite Bewusstseinsbildung in der reichen und vielfältigen Realität der sozialen Bewegungen in Brasilien dienen wird“. João Paulo Rodrigues schließt mit den Worten: „Ziel des Buches ist es, die Erinnerung an eine Vergangenheit wach zu halten, die ständig Gefahr läuft, durch das Vergessen zum Schweigen gebracht zu werden. Aber die Erinnerung ist nie nur mit der Vergangenheit verbunden. Sie ist tief verwurzelt in der Verwirklichung einer Gegenwart und einer Zukunft, die sich von den Erfahrungen der Folter, der Unterdrückung und der Ausbeutung unterscheidet“.

Ein Buch, das uns ehrt

„Für uns ist es sehr wichtig, solidarische und internationale Beziehungen aufzubauen, und deshalb sind wir als Verlag sehr dankbar für das Vertrauen von El Periscopio, ihr Buch bei uns zu veröffentlichen“, sagt Miguel Yoshida, Direktor vom Verlag Expressão Popular.

Yoshida unterstreicht den Wert des Prozesses, der bei der Realisierung der brasilianischen Version des Buches umgesetzt wurde: „In Übereinstimmung mit dem kollektiven Charakter von Nem loucos, nem mortos haben wir auch kollektiv gearbeitet, gemeinsam, mehrere Monate lang, von São Paulo aus und per Zoom, mit einer großen Gruppe von Mitgliedern von El Periscopio aus Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Es war eine sehr originelle und bereichernde Erfahrung“.

Nem loucos, nem mortos wird am 9. Oktober mit einer öffentlichen Veranstaltung in der Buchhandlung Tapera Taperá in São Paulo vorgestellt. Am nächsten Tag wird es in der Nationalen Schule Florestan Fernandes der Landlosenbewegung in Guararema, São Paulo präsentiert. Am 11. Oktober wird der literarische Marathon in Rio de Janeiro mit einer Vernissage in der Buchhandlung Leonardo da Vinci fortgesetzt. Und einige Tage später werden sich Mitglieder von El Periscopio mit dem Buch in der Hand mit Vertretern der Central de Movimentos Populares auf deren 7. Nationalem Kongress austauschen, der vom 26. bis 29. Oktober in Salvador da Bahia stattfindet.

Die früheren politischen Gefangenen in Coronda versprechen sich von der Veröffentlichung in Portugiesisch einen langen und erfolgreichen Weg. Weitere mögliche Präsentationen sollen in den kommenden Monaten in Foz do Iguaçú, erneut in Rio de Janeiro sowie in Porto Alegre und anderen Orten stattfinden. Sie hoffen zudem auch einen Verlag zu finden, um die Verbreitung des Buches in Portugal zu erreichen. Wie die Autoren versichern, sollen ihre Berichte “ein Tropfen im weiten Meer des Erinnerns an den Kampf für eine andere Welt sein“.