Brasilien ist ein Vulkan, der bedrückende Rauchwolken ausstösst und jederzeit explodieren kann. Noch letztes Jahr war der unblutige, parlamentarische Umsturz der Präsidentin Dilma Rousseff das beherrschende Thema. Der Grund ihrer Absetzung sei ein riesiger Korruptionsskandal, hörte man überall. Mir war immer klar, dass die Korruption in den Regierungen der Arbeiterpartei (Lula und Dilma, 2003-2016) nur ein durchsichtiger Vorwand war, um einen Politikwandel ohne Wahlen zu erzwingen.

Und dieser Wandel ist im Schnelltempo gekommen. Der neue Putsch-Präsident, Michel Temer, dessen Partei die Regierungen von Lula und Dilma immer nur halbherzig unterstützt hatte, schloss ein Bündnis mit der konservativen Opposition und setzte im Eiltempo die Axt an den bis heute prekären Strukturen sozialer Sicherheit an. Die Altersversicherung wird abgebaut, das Minimalalter für das Anrecht auf Pension wird auf 65 Jahren erhöht (die Lebenserwartung in der Südzone von São Paulo liegt deutlich unter diesem Alter!), das Arbeitsrecht wird total flexibilisiert, die Sozialprogramme eingefrohren und reduziert, Investitionen in Gesundheit und Erziehung sind rückläufig.

Diese als Sparprogramm angekündigten Reformen deklarierten als Ziel, Brasilien aus der momentanen Rezession zu befreien. Im Klartext heisst das nichts anderes als eine Neuauflage alter, neoliberaler Politik, welche Gewinne der lokalen Eliten und der multinationalen Konzern erhöht, die Rolle des Staates zur Sicherung der Menschenrechte und zur Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit ausschaltet und als Konsequenz die soziale Ungleichheit vertieft. Mit diesem Regierungsprogramm gehört die Regierung Temer zur Spitze der konservativen Restauration, welche den so hoffnungsvollen, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts angebrochenen lateinamerikanischen Frühling abrupt beendet.

Die Konsequenzen sind in wenigen Monaten sichtbar geworden. Gewalt und Repression gegen soziale Bewegungen und Verteidiger der Menschenrechte sind massiv gestiegen. Und erstmals seit Beginn der Lula-Regierung (2003), welche eine beeindruckende Reduktion von Armut und Elend vorweisen kann, hat die bis anhin steigende Kurve des Index Menschlicher Entwicklung (HDI) seine Richtung umgedreht und beginnt zu sinken.

Die sozialen Bewegungen Brasiliens schienen durch den Putsch und durch das Eiltempo der sogenannten Reformen überwältigt und Widerstand kam nur sehr bruchstückhaft auf. Seit dem Generalstreik des vergangenen Aprils und den neusten Enthüllungen über die direkte Beteiligung des Putsch-Präsidenten in verschiedene Korruptionsskandale deuten klar darauf hin, dass die aktuelle Regierung nur eine sehr kurze Lebenserwartung hat. Massive Demonstrationen gegen Temer sind in São Paulo und in ganz Brasilien an der Tagesordnung, von allen Seiten wird sein Rücktritt eingefordert, das oberste Gericht Brasiliens hat Ermittlungen gegen ihn eingeleitet. In weniger als einem Jahr hat diese Übergangsregierung ihre Legitimation verloren und natürlich ist jetzt die Hoffnung gross, dass die eingeleiteten Reformen ebenfalls ins Stocken kommen und gebremst werden können.

Was nach dem Putsch-Präsidenten kommen wird, ist voll und ganz ungewiss. Lula will erneut kandidieren, läuft aber Gefahr durch die brasilianischen Justiz kriminalisiert zu werden und die Möglichkeit einer Kandidatur zu verlieren. Auf alle Fälle steht er in allen Wahlumfrangen weit voraus an erster Stelle.

Die sozialen Bewegungen Brasiliens bestätigen die breiten Errungenschaften während der beiden Regierungen von Lula und Dilma, kritisieren aber zurecht die absolute Absenz effektiver Strukturveränderungen. Lula und Dilma haben sozialpolitische Veränderungen durchsetzen können, das systematisch korrupte politische System jedoch blieb unangetastet. Lula und Dilma rechtfertigen, dass ihnen eine solide Mehrheit im Kongress permanent gefehlt habe, um solche Strukturveränderungen voranzutreiben. Ob dieses konservative Gefüge im nationalen Parlament, welche den Staat als Werkzeug der Interessen der lokalen Eliten missbraucht, in naher Zukunft umkippen kann, ist sehr fraglich. Entscheidend wird sein, wie stark die brasilianische Bevölkerung den Druck auf der Strasse steigern kann.

(tuto)