Lenilson Silva, der in den Favelas nur mit dem Kosenamen ‘Buiu’ genannt wird, ist Teil des Projektes Netzwerk Kinderrecht. Er kommt aus der Favela Cheba, wo er seit vielen Jahren lokale Initiativen zur Begleitung von Kindern und Jugendlichen aufbaut und unterstützt. Mittlerweile ist er Mitglied des Vorstandes des Kinderrechtszentrums Interlagos und kennt die Herausforderungen der Gewalt und der Ungleichheit in der Grosstadt São Paulo aus eigener Erfahrung.

Buiu, du bist selber direkt in die Leitung des Projektes Netzwerk Kinderrecht involviert. Wie ist deine aktive Beteiligung im Projekt und im Kinderrechtszentrum entstanden?

«Ich bin ein Kind der Favela. In meiner Kindheit und Jugend habe ich Folgen von Armut und Elend in meinem Leben und in meiner Familie selber erfahren. Auch kenne ich die Versuchung der Drogenhändler, die den meist arbeitslosen Jugendlichen Einkommen, Autorität und Macht versprechen. Und wenn du einmal in ihrem Netz gefangen bist, dann kommst du kaum mehr raus… Zum Glück habe ich schliesslich meinen ganz eigenen Weg gefunden. Viele meiner Freunde hatten nicht dasselbe Glück. Verschiedene wurden durch die Militärpolizei erschossen oder durch Drogenhändler wegen Schulden umgebracht. Schon als kleines Kind hatte ich riesige Freude an Capoeira und trommelte mit Überzeugung. Und heute weiss ich das ganz genau: diese kulturellen Initiativen, die heute Teil des Projektes Netzwerk Kinderrecht sind, haben mein Leben gerettet».

Erzähl ein bisschen mehr über Capoeira… Was ist das überhaupt?

«Capoeira ist eine ganz und gar brasilianische Erfindung. Sie entsteht im Kontext der aus Afrika durch die portugiesische Kolonialmacht nach Brasilien geschleppten Sklaven. Capoeira mischt Sport, Kampf, Tanz, Kultur, Geschichte und Musik. Und alles zusammen wird zu einem Ausdruck grosser Lebensfreude. Eigentlich war es ursprünglich eine Art des Kampfes. Doch den Sklaven wurde das Üben dieses Kampfes verboten. Das war zu gefährlich für die Herrschaft. So wandelten die Sklaven den Kampf in Tanz mit viel afrobrasilianischer Musik um. Es kommt nie zu einem direkten Körperkontakt. Es geht um den gemeinsamen Rhythmus, die Erfahrung der Gemeinschaft. Ein Teil der Gruppe tanzt den akrobatischen Sport der Capoeira, der andere Teil singt die eigenen Lieder und trommelt auf den Trommeln den Takt der Bewegung. Wir bauen miteinander die verschiedenen, ursprünglichen Instrumente, tauchen ein in die Geschichte Brasiliens und lernen, dass die Sklaverei zwar heute gesetzlich verboten ist, im Alltag der Favelas aber noch allgegenwärtig bleibt. Capoeira ist eine Schule der Lebensfreude, des Verstehens der eigenen Realität und die Möglichkeit, selber aktiv zu werden am Versuch, diese Realität zu verändern».

Heute bist du selber Teil des Vorstandes des Kinderrechtszentrums Interlagos. Wo liegen die grossen Herausforderungen?

«Ich habe riesige Freude, meinen Alltag mit Kindern und Jugendlichen zu teilen, sie nicht als Problem wahrzunehmen, sondern als Menschen, in denen ein grosses Potenzial steckt. Unsere Aufgabe ist es, genau diese individuellen und gemeinschaftlichen Möglichkeiten zu stärken und zu fördern. Ich habe schon viele Kinder und Jugendliche begleitet, die dank dieser Projektarbeit aus der Drogenabhängigkeit gefunden haben, die Folter alltäglicher Gewalt in ihren Familien überwinden konnten und jetzt hoffnungsvoll an ihren Lebensperspektiven arbeiten. Zwar sind in Brasilien überall die Schatten der tiefen Krise spürbar. Und das geht natürlich nicht spurlos am Projekt und am Kinderrechtszentrum vorbei. Doch wir arbeiten weiter. Obwohl wir immer auf breiteren Widerstand in den brasilianischen Regierungsstellen treffen, geben wir nicht auf. Das können wir nicht, das dürfen wir nicht. Das schulden wir den hunderten Kindern und Jugendlichen. Mit ihnen bauen wir durch Spiel und Sport an einer gerechteren Gesellschaft».

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