Soziale Ungleichheit tut keinem gut, weder der überprivilegierten Minderheit noch der ausgegrenzten Mehrheit. Soziale Ungleichheit wird durch Ausbeutung produziert und durch die Verhinderung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen vertieft. Soziale Ungleichheit verkürzt Leben, zerstört menschliche Potenziale, vernichtet Entwicklungsmöglichkeiten, tötet Träume und Hoffnungen. Die schreienden Gegensätze zwischen den spiegelnden Wolkenkratzern der Geschäftszentren und der feucht stinkenden Holz- und Kartonbuden der Favelas und unter den Brücken unzähliger Avenidas machen die Perversität der sozialen Ungleichheit Brasiliens sichtbar. Doch noch schlimmer als dieser sichtbare Abgrund ist das meist unsichtbare Zerbrechen menschlicher Beziehungen. Familien aller sozialer Schichten könnten Bibliotheken mit ihren gewaltigen Geschichten zerbrochener Menschen füllen.

Vielen dieser Geschichten begegnet das Projekt Treffpunkt Kinderrecht des Kinderrechtszentrums Interlagos. Funktionierte bis 2015 das Projekt einzig im Sitz des Kinderrechtszentrum, konnte im vergangenen Jahr die Arbeit dezentralisiert werden. Im Moment bestehen zwei Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, deren Rechte in irgendeiner Form verletzt werden. Im Laufe dieses Jahres wird der Aufbau einer dritten Anlaufstelle in Angriff genommen, um die ganze Region Interlagos abzudecken. Monatlich werden in den Anlaufstellen um die dreihundert Kinder und Jugendliche mit ihren Familien unterstützt und begleitet. Sehr auffällig in den letzten Monaten ist die starke Zunahme von Fällen häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs. Der Lebensweg von Marlene ist leider nur ein Beispiel unter vielen…

Marlene war gerade zehnjährig als ihre Familie zum ersten mal durch das Kinderrechtszentrum begleitet wurde. Im Zentrum standen damals ihre beiden älteren Schwestern. Ihre Mutter, Eliane, arbeitet als Haushaltsangestellte, putzt jeden Tag in einem anderen Haus, hat keinen Arbeitsvertrag und deshalb auch keine sozialen Versicherungen. Sie arbeitet hart, jeden Tag über neun Stunden, verdient weniger als einen Mindestlohn und wird täglich in den überfüllten Bussen während mehr als drei Stunden beinahe erdrückt. Aus erster Ehe hat Eliane zwei Mädchen. Mit Roque ist sie seit elf Jahren zusammen und mit ihm hat sie zwei Kinder: Marlene und einen Sohn. Wenn Roque dazu im Stande ist, arbeitet er als Taglöhner auf dem Bau. Da der Alkohol ihn aber schon längst ausgehöhlt hat, liegt er meist zuhause und vegetiert vor sich hin.
Der erste Kontakt der Familie mit dem Kinderrechtszentrum entstand, als die älteste Schwester von Marlene Hilfe suchte. Sie wurde von Roque, ihrem Stifvater sexuell missbraucht, ihre Mutter jedoch glaubte ihr nie.

Denunzieren wollte sie ihren Stifvater jedoch nicht, die Angst war zu gross. Sie wollte einfach weg und suchte den Kontakt zu ihrem Vater. Nach langem Suchen fanden wir ihren Vater: er lebt dreissig Bussstunden von São Paulo entfernt im Nordosten Brasiliens. Nach langem Ringen mit der Mutter und der lokalen Justiz konnten die beiden älteren Schwester von Marlene von São Paulo weg. Seit sie weggezogen sind, hat Marlene mit ihnen nie mehr Kontakt gehabt. Hoffentlich sind die beiden jetzt in Sicherheit.
Doch Marlene war es nicht. Die Gewalt ihres Vaters traff jetzt sie. Auch sie wurde sexuell missbraucht. In der Schule erzählte sie einer Freundin von ihrem Leid. Und diese erzählte die Geschichte weiter. Schlussendlich gelangte die Situation der Familie von Marlene zu den Drogenhändlern der Favela. Diese benutzen den unüberblickbaren Kontext der Favela nicht nur für ihren Drogen- und Waffenhandel. Gleichzeitig besetzen sie die Rolle des kaum je gegenwärtigen Staates und sichern „Ruhe und Ordnung“. Sexuellen Missbrauch dulden sie nie. Immer holen sie die beschuldigten Personen vor ihr informelles Gericht und bestimmen drakonische Strafen, die sie selber ausführen. Eliane wurde brutal zusammengeschlagen, Roque tauchte nie mehr auf. Wahrscheinlich haben sie ihn getötet.

Jetzt sind sie nur noch drei: Eliane, Marlene und der jüngste Sohn. Seit dieser einschneidenden Erfahrung wird Marlene von ihrer Mutter und ihrem Bruder beschuldigt, die einzige Schuldige an der familiären Tragödie zu sein. Das Opfer häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs wird zur Schuldigen für die erlittene Gewalt erklärt. In diesem Moment sucht Marlene wieder das Kinderrechtszentrum. Sie ist jetzt schon fünfzehnjährig und vielfach traumatisiert. Ihre Kindheit ist zerstört und sie fühlt sich absolut allein gelassen mit ihrem Schmerz und ihrem Leiden. Das Kinderrechtszentrum begleitet sie intensiv, der Weg zurück zu ihrer Mutter ist nicht mehr möglich. Seit drei Monaten lebt Marlene bei einer Pflegefamilie und versucht, ihre Vergangenheit zu überwinden, um Kraft für die Zukunft zu finden.

Genau dieser Staat, der Marlene nie geschützt hat und dessen Justiz nur selten die Straflosigkeit überwindet, wird durch den aktuellen Putsch-Präsidenten weiter reduziert.