Die progressiven Regierungen in Lateinamerika laufen Gefahr, dem Widerspruch zwischen einer linken Politik und einer rechten Ökonomie zu erliegen.
In keinem anderen Kontinent hat es in den vergangenen drei Jahrzehnten so signifikante Veränderungen gegeben wie in Lateinamerika und der Karibik. Die Herausforderungen, vor denen die 33 Länder mit 600 Millionen Einwohnern stehen, sind enorm.
Nach dem Scheitern des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta, zwischen USA, Kanada und Mexiko sowie Chile als assoziiertem Land) und der Ablehnung des Vorhabens des Gesamtamerikanischen Freihandelsabkommens (Alca) durch die Mehrheit der Länder des Kontinents begann dieser seinen eigenen Weg zu gehen. So erreichten Lateinamerika und die Karibik schließlich ihre Mündigkeit.
Viele Faktoren haben zu diesem Fortschritt beigetragen. Da ist zuerst der Widerstand der Kubanischen Revolution zu nennen, die weder den Aggressionen der USA noch dem Fall der Berliner Mauer und dem Scheitern der Sowjetunion erlag.
Später kam dann an den Wahlurnen die Ablehnung der Kandidaten, die das neoliberale Projekt verkörperten und der Sieg derjenigen, die sich mit den popularen Forderungen, insbesondere der Ärmsten identifizierten: Lula, Bachelet, Kirchner, Mujica, Correa, Morales, Chavez etc. Mehrere Organismen wurden geschaffen, um die kontinentale Integration zu stärken: Alba, Celac, Telesur, Unasur, Caricom, Aladi, Parlatino, Sica, etc.
Dennoch zeichnen sich viele Schwierigkeiten am Horizont ab. In dieser globalisierten und durch den neoliberalen Kapitalismus beherrschten Ökonomie wirkt sich die Krise starker Währungen wie Dollar und Euro negativ auf die Länder des Kontinents aus. Auch wenn es im Kampf gegen die extreme Armut Fortschritte gibt, leben in der Region noch heute Millionen Menschen im Elend; die den Arbeitern ausgezahlten Löhne sind im Verhältnis zu den inflationären Kosten der Lebenshaltung niedrig; die soziale Ungleichheit wächst in schwindelerregendem Tempo (von den 15 ungleichsten Ländern der Welt liegen zehn auf unserem Kontinent).
In Europa, wo die Wirtschaftskrise über 30 Millionen Menschen, in ihrer Mehrheit junge Leute, arbeitslos gemacht hat, gibt es keine Linke mehr, die in der Lage ist, Alternativen vorzubringen. Die Berliner Mauer brach über den Köpfen der linken Parteien und Aktivisten zusammen und sie wurden fast alle vom Neoliberalismus kooptiert. Und jetzt verstärken die terroristischen Attentate den Fremdenhass, die Politik der verschlossenen Türen gegenüber Geflüchteten und sie stärken die rechten Parteien, die ein „Europa für die Europäer“ und einen Polizeistaat verteidigen.
In den Celac-Ländern deutet die historische Abhängigkeit ihrer Volkswirtschaften von äußeren Märkten auf eine sich tendenziell verschärfende Krise hin. Die Wachstumsraten des Brutttoinlandsproduktes sinken; die Inflation nimmt wieder zu; Deindustrialisierung und Landflucht mit nachfolgender Ausdehnung des Großgrundbesitzes verstärken sich.
Die Klasse der Verarmten (El ‚Pobretariado‘)
Es reicht nicht, progressive Diskurse und Politikstrategien zu haben, wenn sie in den Wirtschaftsprogrammen keine Entsprechung und Umsetzung finden. Und unsere Ökonomien stehen weiterhin unter dem Druck von Metropolenländern und von Organismen, die von den Eigentümern des Systems (IWF, Weltbank, OECD, etc.) vollständig kontrolliert werden; ebenso unter dem Druck eines Preisregelungssystems, insbesondere der Nahrungsmittelpreise, das von Grund auf ungerecht ist und in dem die privaten Profite des Marktes mehr Bedeutung haben als das Leben der Menschen.
Die Weltbank warnt, dass 241 Millionen Lateinamerikaner Gefahr laufen zu verarmen. Dies wurde von Bauman als Prekarisierung und von mir als ‘pobretariado’ bezeichnet. Diese 241 Millionen sind weder Arme noch können sie als Mittelklasse angesehen werden. Sie machen 38 Prozent der Bevölkerung eines Kontinents aus, auf dem alle, die mit weniger als vier US-Dollar täglich überleben müssen, als arm betrachtet werden.
Heutzutage lebt aufgrund der Wirtschaftskrise, die Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko, Argentinien und Venezuela betrifft, die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Lateinamerikas von informeller Arbeit.
Seit die Spanier und Portugiesen in unsere Heimatländer kamen hängt die kontinentale Wirtschaft vom Export von Primärprodukten ab, die heute als Rohstoffe bekannt sind. Allerdings ist bei den großen Importeure wie China und Westeuropa aktuell ein Rückgang zu verzeichnen.
In Lateinamerika gelten heute 167 Millionen Menschen als arm und 71 Millionen als im Elend lebend (Die Letzteren überleben mit maximal einem Dollar am Tag). In Brasilien hat das Elend bereits zwölf Prozent der Bevölkerung erreicht und diese Entwicklung verschärft sich durch die Haushaltsanpassungen der Putschregierung von Michel Temer, die sich auf die Sozialpolitik auswirken und das Wachstum des BIP hemmen, noch weiter.
Alle progressiven Regierungen, die heute in der Celac sind, wissen, dass sie von den sozialen Bewegungen und den ärmsten Sektoren, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, gewählt worden sind. Aber gibt es denn eine wirkungsvolle Arbeit, um die popularen Sektoren zu organisieren? Sind die sozialen Bewegungen tatsächlich Protagonisten der Regierungspolitiken oder bloße Nutznießer von Programmen zur Armutsbekämpfung mit Wohlfahrts- und nicht mit emanzipatorischem Charakter?
Wie ist der Umgang der demokratischen Volksregierungen Lateinamerikas mit den Bevölkerungssektoren, die von der Sozialpolitik profitieren? Gibt es ein Engagement für intensive politische Bildung der Bevölkerung oder verbreitet sich eine konsumistische Mentalität?
Individualismus und Konservativismus
Es ist nicht zu leugnen, dass das vom Neoliberalismus verursachte Ausmaß an Exklusion und Elend dringender Maßnahmen bedarf, die reine Hilfeleistung sind. Eine solche Wohlfahrtspolitik beschränkt sich aber auf den Zugang zu persönlichen Vorteilen (finanzieller Zuschuss, Schule, medizinische Betreuung, Krediterleichterungen, Zuteilung von Grundbedarfsgütern etc.), ohne dass es zugleich ergänzend pädagogische Prozesse zur politischen Bildung und Organisierung gäbe.
So bilden sich Wahlhochburgen ohne Anbindung an ein alternatives politisches Projekt zum Kapitalismus. Es werden Wohltaten verteilt ohne Hoffnung zu wecken. Der Zugang zum Konsum wird gefördert, ohne die Entstehung neuer gesellschaftlicher und politischer Protagonisten zu befördern. Und was schwerwiegender ist: ohne zu begreifen, dass die recycelbare Waren im gegenwärtigen Konsumsystem Fetischcharakter haben und der Konsument wertgeschätzt wird, nicht der Bürger. Der post-neoliberale Kapitalismus führt „Werte“ ein – wie die Wettbewerbsfähigkeit und die Kommerzialisierung aller Aspekte des Lebens und der Natur, und verstärkt so Individualismus und Konservatismus.
Unsere fortschrittlichen Regierungen, in ihren vielfältigen Widersprüchen, kritisieren den Finanzkapitalismus und fördern gleichzeitig die „Bankarisierung“ bei den ärmsten Bevölkerungssektoren durch Zugangskarten zu Geldleistungen, zu Renten und Löhnen und durch die Erleichterung der Kreditvergabe, trotz der Schwierigkeit, Zinsen zu zahlen und die Schulden zu begleichen.
Die Gefahr besteht, im gesellschaftlichen Denken die Vorstellung zu stärken, dass der Kapitalismus immerwährend ist („Die Geschichte ist zu Ende“ wie Francis Fukuyama proklamierte), und dass es ohne ihn keinen wirklich demokratischen und zivilisatorischen Prozess geben könne. Was bedeutet – auch wenn dies mit Gewalt geschieht – all diejenigen zu dämonisieren und auszuschließen, die das „Offensichtliche“ nicht akzeptieren und sie als Terroristen, Feinde der Demokratie, Subversive oder Fundamentalisten anzusehen.
Diese Logik verstärkt sich noch, wenn linke Kandidaten im Wahlkampf nachdrücklich das Vertrauen in den Markt, die Attraktivität ausländischer Investitionen, die Garantie, dass Unternehmer und Bankiers höhere Gewinne erzielen, etc. hervorheben.
Hin zu strukturellen Reformen?
Ein Jahrhundert lang hat sich die Denkweise der lateinamerikanischen Linken niemals mit der Vorstellung auseinandergesetzt, den Kapitalismus etappenweise zu überwinden. Dies ist eine neue Sache, die viel Analyse erfordert um Politiken umzusetzen die verhindern, dass die gegenwärtigen demokratischen popularen Prozesse durch das Großkapital und seine rechten politischen Vertreter zunichte gemacht werden.
Diese Herausforderung kann nicht nur den Regierungen überlassen werden. Sie erstreckt sich auf die sozialen Bewegungen und die fortschrittlichen Parteien, die sobald wie möglich als „organische Intellektuelle“ handeln und die Debatte über Fortschritte und Widersprüche, Schwierigkeiten und Vorschläge vergesellschaften müssen, um die Vorstellungswelt, die auf die Befreiung des Volkes und das Erkämpfen des Modells einer nach-kapitalistischen, wahrhaft emanzipatorischen Gesellschaft ausgerichtet ist, ständig zu erweitern.
Der Kopf denkt von da aus, wo die Füße auf dem Boden stehen (La cabeza piensa donde pisan los pies). Unsere progressiven Regierungen laufen ernsthaft Gefahr, dem Widerspruch zwischen einer linken Politik und einer rechten Ökonomie zu erliegen, wenn sie nicht das Volk mobilisieren, um strukturelle Reformen umzusetzen. Und sie drohen dem Prinzip der Violine zu erliegen, die mit links gehalten und mit rechts gespielt wird…
Wie Onelio Cardozo gesagt hat, haben die Leute „Hunger nach Brot und Schönheit“. Ersteren kann man stillen; der zweite ist unerschöpflich. Das bedeutet, dass das menschliche Sehnen, das unendlich ist, nur dann aufhören wird eine Geisel von Konsumismus und Hedonismus – den Fangarmen des Neoliberalismus – zu sein, wenn es seinen Hunger nach Schönheit, das heißt nach dem Daseinssinn, gestillt hat.
Dies wird man kaum mit mehr Bohnen auf dem Teller und mehr Geld in der Tasche erreichen können. Aber es wird möglich, wenn es eine Bildung gibt die in der Lage ist, jeder Mitbürgerin und jedem Mitbürger die Überzeugung zu vermitteln, dass es sich lohnt zu leben und zu sterben, damit alle ein Leben haben – und ein Leben in Fülle, wie Jesus sagte (Johannes 10, 10).
Frei Betto aus Brasilien ist Befreiungstheologe, Schriftsteller und Autor
Übersetzung: Klaus E. Lehmann
Quelle: Amerika21