Kürzlich hat der brasilianische Künstler Thiago Mundano die Menschen in São Paulo mit einer riesigen Wandmalerei überrascht. Die Botschaft ist klar: „Stoppt die Zerstörung“. In die Mitte stellt Mundano die indigene Aktivistin, Alessandra Munduruku, die sich seit ihrer Kindheit für den Schutz des Regenwaldes einsetzt und gegen die expandierende Sojamonokultur, eine der wichtigsten Faktoren der systematischen Abholzung des Amazonaswaldes, ankämpft. „Haltet eure Versprechen“, fordert die Wandmalerei und zeigt einen durch Brandrodung und Dürre völlig zerstörten Regenwald.

Quelle: https://www.instagram.com/mundano_sp/

Immer schon hatte der in São Paulo geborene Thiago Mundano mit seiner Kunst auf soziale Fragen aufmerksam gemacht und hat verschiedentlich mit dem Kinderrechtszentrum Interlagos zusammengearbeitet. Sicher ist die riesige Wandmalerei – wenige Meter von der wichtigen Avenida Paulista im Zentrum von São Paulo entfernt – der aktuelle Höhepunkt seines Schaffens. Nicht nur wegen dem Inhalt seines Gemäldes, sondern auch wegen der Art und Weise, wie er die riesige Wand bemalte. Denn alle dafür benutzten Farben hat er selber aus Asche von Waldbränden und dem Schlamm der verheerenden Überschwemmungen im Rio Grande do Sul (im vergangenen Mai im Süden Brasiliens) selber produziert. Es sind also Farben, die in ihrer Zusammensetzung genau das sind, was Mundanos konkretes Bild zum Ausdruck bringt.

Quelle: https://www.instagram.com/mundano_sp/

Darum ist seine Darstellung der brasilianischen Realität auch stark von grauen und braunen Tönen bestimmt. Je grösser der Abstand von der Wandmalerei, umso mehr geht das Bild in den Grautönen der riesigen Stadt São Paulo auf. Als ich im vergangenen Juli São Paulo besuchte, wurde mein Blick durch diese Vorherrschaft der grau-braunen Töne in der endlosen Komplexität von Asphalt und Beton, riesiger Avenidas und grau spiegelnder Hochhäuser, aber auch in den vernachlässigten Gassen der Favelas mit den improvisierten Buden und Hütten aus Holz, Eternit und Plastik geprägt. Alles taucht ein in eine grau-braune Monotonie, welche Krisen und Katastrophen hinter der faden Eintönigkeit der Oberflächlichkeit verdeckt.

Quelle: https://www.instagram.com/mundano_sp/

Doch in den Tagen meines Besuches wurde die Fassade der grau-braunen Töne durch das Erblühen der Ipê-Bäume durchbrochen. Ipê ist ein in Brasilien weit verbreiteter Baum. Sein Name bedeutet auf Tupi Guarani (indigene Sprache, die vor der portugiesischen Eroberung Brasiliens in der Region von São Paulo weit verbreitet war) „harte Rinde“. Seine Blüten sind rosa, gelb oder weiss und beeindrucken durch die Intensität ihrer Farbenpracht. Diese wird noch zusätzlich betont, weil der Baum bei Winterbeginn alle Blätter fallen lässt und erst, wenn beinahe alle Blätter am Boden liegen, zu blühen beginnt und in seinen fröhlichen Farben explodiert.

Dieses Bild der mit starken Farben explodierenden Ipê-Bäume im Umfeld der grau-braunen Eintönigkeit der riesigen Stadt São Paulo ist inspirierend. Denn wie die Ipê-Bäume die monotone Oberfläche der Stadt durchbrechen, so versucht die Projektarbeit von Novo Movimento für die Rechte der Kinder und Jugendlichen ebenfalls farbige Akzente im scheinbar hoffnungslosen Grau des oft gewaltigen Alltages zu setzen.   

Projekte sind wie Bäume, die wir pflanzen. Wie mein Schwiegervater, der einen Ipê-Baum (auf der Titelseite) vor vielen Jahren pflanzte und pflegte. Unter ihm hat Marcia, meine Frau, bereits als Kind gespielt, der grösste Ast war der Aufhänger einer vielbenutzten Schaukel. Unter ihm sitzen im heissen Sommer die Nachbarn zusammen und freuen sich der leichten Brise im wunderbaren Schatten. Bäume schlagen Wurzeln in die Erde. Sie sind Anker im Boden der Wirklichkeit. Sie reinigen die Luft und produzieren Sauerstoff zum Atmen. Bäume helfen, das Leben lebbarer zu machen, sind Referenzpunkte, Orientierungshilfen.

Wie die Ipê-Bäume haben auch Projekte die Zeit ihrer Blüte. Sie werden zu farbigen Punkten im grauen Meer der riesigen Stadt, Punkte der Hoffnung, Ermutigung in schwierigen Zeiten. Und nach der Blüte geschieht eigentlich das Wichtigste: aus der Farbenpracht entstehen Samen, die in aller Stille in die verschiedenen Richtungen getragen werden. Aus einem Baum entstehen unzählige Samen und multiplizieren damit die Möglichkeit neuer Bäume. Jeder Baum ist ein farbiger Punkt, hat seinen Sinn in sich selber, und ist gleichzeitig die Vorwegnahme möglicher Horizonte, welche Alternativen zum krisenhaften Grau-Braun unserer Weltwirklichkeit sichtbar machen.

Obwohl Bäume langsam wachsen, sind in der Projektarbeit von Novo Movimento in den vergangenen Jahrzehnten viele Bäume gross geworden. Jedes noch so kleine Projekt bedeutet für viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien die oft einzige Chance, einen Ausweg aus der alltäglichen Gewalt versuchen zu können, Beziehungen des Miteinanders und der Gemeinsamkeit aufzubauen, um Möglichkeiten des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu wagen. Bäume wachsen nicht immer. Oft fehlt der Regen, oft werden sie gefällt. Ein Baum allein ist verletzlich, ausgesetzt und gefährdet. Darum ist es so wichtig, die farbigen Punkte der einzelnen Bäume zu verbinden, kleine Wälder zu ermöglichen, um sich gegenseitig zu stärken und um gleichzeitig das lokale Mikroklima zu beeinflussen.

Mit dem langjährigen Aufbau von verschiedenen Anlaufstellen für Kinderrechtsverletzungen (Projekt Treffpunkt Kinderrecht) hat das Kinderrechtszentrum Interlagos (CEDECA Interlagos) sehr klar und deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht genügt, schöne Gesetzestexte zu haben, und dass Kinder tatsächlich und unwiderrufbar ein Anrecht auf Bildung und Erziehung, Teilhabe und Kultur, familiäres Umfeld und Schutz vor Gewalt, gesunde Umwelt und vieles mehr haben. Durch diese Anlaufstellen gelingt es, bestehende Rechte einzufordern, auch wenn nur sehr langsam und oft extrem mühsam. Aber der Weg ist gelegt, die Ausrichtung klar. Gesichert werden muss die allgemeine Institutionalisierung dieser Stellen und die Wirksamkeit ihrer Massnahmen. Mittelfristig wird das Kinderrechtszentrum diese Priorität reduzieren, weil ein qualitativ gutes Modell durch das Kinderrechtszentrum aufgebaut wurde und jetzt von der Gemeinde São Paulo übernommen werden muss.

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Favelas in der Südzone von São Paulo, Brasilien

Umso wichtiger jedoch wird die bis heute schon sehr erfolgreiche Umsetzung des Projektes Netzwerk Kinderrecht. In diesem Projekt geht es um den Aufbau und die Vernetzung von lokalen Initiativen in den Favelas. Kinder werden aktiv durch Sport, Theater oder Musik. Es handelt sich aber nicht um eine Freizeitbeschäftigung, sondern es geht ganz wesentlich darum, den Kindern und Jugendlichen einen geschützten Raum ohne Gewalt zu ermöglichen, in dem sie selber aktiv werden, ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Gemeinsamkeit aufbauen, die Wahrnehmung von Wertschätzung, Vertrauen und Freundschaft lernen. Kinder und Jugendliche sind systematisch Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Vernachlässigung. Aber sie können viel mehr als Opfer sein. Sie können eine gemeinsame Stimme stärken, Partizipation und Selbstwirksamkeit lernen und miteinander Veränderungsprozesse in Bewegung bringen.

Was vor Jahren mit der Zirkusschule entstand, ist heute ein breites Netzwerk von verschiedenen Initiativen, das sich auf die Favelas der Südzone von São Paulo ausweitet und eine immer grösser werdende Zahl an Kindern und Jugendlichen erreicht. Das Projekt sichert nicht nur einen sicheren Raum für Kinder und Jugendliche, sondern schafft ein geschütztes Umfeld, damit sie  selber ihre Pläne und Vorhaben umsetzen und vernetzen. Teilhabe und Partizipation haben im Projekt einen sehr hohen Stellenwert. Gemeinsam versuchen die verschiedensten Initiativen, eine lokale Bewegung für Kinder und Jugendlichen aufzubauen, deren Stimme in den Wohnvierteln und Favelas, aber auch bei Institutionen und Regierungen wahr- und ernstgenommen wird.

Wir freuen uns, mit Euch auf den kommenden Seiten die Gedanken und Erfahrungen von Jefferson vom Pagode da 27, von Buiu und Nany aus der Capoeiraschule Guaraúna und von Maria de Nazaré, Koordinatorin der Zirkusschule des Kinderrechtszentrums Interlagos, teilen zu können. Sie alle erzählen von Kindern und Jugendlichen, die blühen wollen, die wachsen möchten, um Menschen in Würde und Gerechtigkeit zu sein.

Wie Bäume sind auch ausnahmslos alle Menschen verwundbar. In verschiedensten Lebenslagen und Lebensphasen lernen wir, dass wir immer aufeinander angewiesen sind und nur in Verbundenheit und Bezogenheit leben können. Ohne Anerkennung unserer Verletzlichkeit ist unser Leben immer gefährdetes Leben. Kinder und Jugendliche im globalen Süden, z.B. in São Paulo, Brasilien, finden genau diese Anerkennung nicht. Durch die Projektarbeit drängen sie jedoch Schritt um Schritt gemeinsam in die Sichtbarkeit und fordern diese Anerkennung ein. Ja, sie haben ein Recht, Rechte zu haben, genauso wie jeder Mensch: in Winterthur oder São Paulo, egal wo. Und Eure Unterstützung macht es ihnen möglich, die systematische Unsichtbarkeit zu durchbrechen und gemeinsam in die Sichtbarkeit zu drängen. Eure Unterstützung ermöglicht individuelle und gemeinschaftliche Veränderungsprozesse, die ohne Euch aus dem Nichts nicht entstehen könnten. Deshalb dankt Novo Movimento Euch allen für die grosse Nähe und Verbundenheit!

(tuto)