Befreiungstheologe, ehemaliger politischer Gefangener der 1970-erJahre, Schriftsteller: Der brasilianische Dominikaner Carlos Alberto Libânio Christo, besser bekannt als Frei Betto, ist einer der luzidesten Analytiker der Realität in seinem Land. Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen vom 8. Oktober in Brasilien spricht Betto über die komplexe wie herausfordernde Lage.
Inzwischen ist der inhaftierte ex-Präsident Lula von seiner Arbeiterpartei (PT) offiziell als Kandidat nominiert worden – der UNO-Menschenrechtsausschuss forderte die brasilianische Regierung am 17. August auf, Lulas Kandidatur zu ermöglichen. Die Rechte ist gespalten, doch sticht der Kandidat Jair Messias Bolsonaro (Partido Social Liberal) mit seinen extremen Positionen hervor. Auf linker Seite ist das Spektrum weniger breit: nebst Lula, der laut Umfragen am meisten Wählerstimmen holen würde, tritt der aufstrebende Sozialaktivist Guilherme Boulos an, der vom Partido Socialismo y Libertad (PSOL) lanciert wurde.
Der 73-jährige Frei Betto hat 60 Bücher zu verschiedensten Themen publiziert – von den Briefen aus dem Gefängnis (1977) über die historischen Gespräche mit Fidel Castro zu Religion («Nachtgespräche mit Fidel») bis hin zur «Mosca azul», worin Betto die Probleme und Widersprüche des PT an der Macht thematisiert. Der Freund von Lula gehörte von 2003-2004 dessen Kabinett als Berater des Anti-Hunger-Programms «Hambre Cero» an. Nach Differenzen über die Regierungsführung zog er sich in der Folge aber zurück. Heute gehört Frei Betto zu den kritischen sozialen Akteuren im Land. Der Freidenker bezeichnet sich selber als «IGN», die Abkürzung für «Nichtregierungsindividuum» (Individuo no gubernamental).
Interview:
Laut den sozialen Bewegungen, der Linke und zahlreichen Analysten leidet Brasilien unter den Folgen der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff im Jahre 2016 aufgrund nicht bewiesener Anschuldigungen. Wie beurteilen Sie die anstehenden Wahlen vom 8. Oktober in diesem Kontext?
Frei Betto: Das werden die unvorhersehbarsten Wahlen, die Brasilien je erlebt hat. Knapp sieben Wochen vorher ist der Ausgang kaum zu beurteilen, weil der Kandidat mit den meisten zu erwartenden Wählerstimmen Lula heisst. Er kommt je nach Umfrage auf 30 oder 32 Prozent. 21 Prozent der Wähler sind noch unentschlossen, gefolgt von 19 Prozent, die den rechtsextremen Militär Bolsonaro wählen wollen. Der Politikanalyst Marcos Coimbra ging Mitte August davon aus, dass sich im zweiten Wahlgang der PT-Kandidat – Lula oder Fernando Haddad, sofern Lula nicht antreten darf – und Bolsonaro gegenüberstehen werden.
Ist zu erwarten, dass diese Wahlen zu einer Deblockierung der Situation und einer erneuten demokratischen Dynamik führen?
Frei Betto: Die Beschränkung der Demokratie drückt sich in den Anschuldigungen gegen Lula aus, dem wichtigsten nationalen Kandidaten. Es handelt sich um Vorwürfe (wegen Korruption, Anm. der Red.), die nicht belegt sind. Es ist merkwürdig, dass er in der Küstenstadt Guarujá für einen Fall angeklagt wird, der São Paulo betrifft, und er in Paraná gefangen gehalten wird – wiederum einem anderen Bundesstaat. Es liegt auf der Hand, dass der demokratische Prozess in Brasilien verletzt wird, wenn die Justiz Entscheide trifft, deren wichtigstes Ziel es ist, Lula von einer dritten Präsidentschaft abzuhalten.
Trotzdem hat die Arbeiterpartei Lula am 15. August offiziell als Kandidaten registriert – begleitet von einer Kundgebung mit mehr als 50’000 Personen. Erachten Sie die Kandidatur als symbolischen Akt oder könnte sie von den Wahlbehörden tatsächlich akzeptiert werden?
Frei Betto: Es gibt Präzedenzfälle von Kandidaten, die durch die Justiz verurteilt waren, deren Registrierung aber bewilligt wurde. Einmal gewählt, durften sie ihr Amt antreten. Insofern kann man nicht sagen, dass Lula schon aus dem Rennen ist. Seine Anwälte werden bis zu einem Entscheid des obersten Gerichtes kämpfen. Im Falle eines Ausschlusses von Lula wird Fernando Haddad kandidieren, früherer Erziehungsminister der PT-Regierung. Als Vizepräsidentin wird Manuela d’Avila von der kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) antreten.
Falls Lula als Kandidat ausgeschlossen wird: Haben andere progressive Kandidaten, wie zum Beispiel Guilherme Boulos (PSOL), aus Ihrer Sicht eine Wahlchance?
Frei Betto: Laut den Umfragen verfügt Lula über ein Potential von 30 Prozent der Wählerstimmen, die auf einen Ersatzkandidaten übergehen könnten. Das ist eine sehr bedeutende Zahl. Doch alles deutet darauf hin, dass nicht alle potentiellen Lula-Wähler seinen Ersatz wählen würden. Ich denke, viele Stimme werden auf Guilherme Boulos sowie auf Ciro Gomes (Partido Democrático Laborista, Alianza Brasil Soberano) oder Marina Silva (REDE) übergehen.
Sie sind befreundet mit Lula, der sich engagiert für das Volk und insbesondere die sozialen Bewegungen eingesetzt hat. Gleichzeitig haben Sie gewisse Politiken und Methoden des PT während dessen 13-jähriger Regierungszeit stets kritisiert. Welche Herausforderungen stellen sich für die Partei Ihrer Ansicht nach in Zukunft?
Frei Betto: Ich hätte es geschätzt, wenn der PT sich der Selbstkritik gestellt und Korruptionsvorwürfe an die Adresse seiner Mitglieder durch eine Ethikkommission hätte untersuchen lassen. Sofern die Partei es schafft, mit Lula oder Haddad zu siegen, gehe ich davon aus, dass sie eine progressivere Regierung stellt als früher mit Lula oder mit Dilma – oder es zumindest versucht. Man muss dabei daran erinnern, dass in Brasilien der Präsident von der Unterstützung beider Parlamentskammern abhängt. Und ich habe keine Hoffnung, dass der künftige Kongress nach den Wahlen weniger konservativ sein wird als der heutige. In diesem Sinne bleibt der Linken nichts anderes übrig, als zur Arbeit an der Basis zurückzukehren und die politische Alphabetisierung des Volks zu fördern.
Die Wahlen in Brasilien finden in einem für Lateinamerika komplexen Moment statt. Die neoliberale Offensive wird einzig durch den Amtsantritt von Mexikos künftigem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador am 1. Dezember ausgeglichen.
Frei Betto: Brasilien und Mexiko sind die zwei mächtigsten Länder in Lateinamerika. Sofern der PT oder der PSOL in Brasilien gewinnen, wird die Verbindung zu López Obrador sehr wichtig sein, um den progressiven Regierungen auf dem Kontinent Mut zu machen und die Souveränität Venezuelas und der Kubanischen Revolution zu verteidigen. Sollte Ciro Gomes gewinnen, wird Brasilien eine zweideutige Politik haben, manchmal progressiv, manchmal unterwürfig. Die übrigen Kandidierenden – inklusive Marina Silva – stellen sich nicht gegen die neokoloniale Politik des Weissen Hauses, das unter anderem erreichen möchte, dass wir die Beziehungen zu China und Russland kappen.
Von Sergio Ferrari, freier Journalist und Vorstandsmitglied von Novo Movimento
Übersetzung: Theodora Peter
Französische Version des Interviews mit Frei Betto – Quelle: Le Courrier – L’essentiel autrement
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