In diesen Tagen steht das grösste Land Lateinamerikas Kopf. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat, Jair Bolsonaro, erreichte im ersten Wahlgang am vergangenen 7. Oktober 46% aller gültigen Stimmen, was knapp 50 Millionen Stimmen entspricht. Die Tatsache, dass sowohl Marie Le Pen in Frankreich als auch die AfD in Deutschland den ehemaligen Militär als zu extrem ablehnen, gibt ein den Tatsachen entsprechendes Bild, welches Horrorszenarium dieser Kandidat vertritt.

Brasilien ist weltweit als Sympatieland bekannt und beliebt. Wird oft als Land der Hoffnung und des interkulturellen Friedens gelobt und gepriesen. Doch hinter diesen vordergründigen Analysen verstecken sich historische Prozesse, die mit in den Blick kommen müssen, um die Aktualität Brasiliens zu verstehen. Wahlen sind Momentaufnahmen, die in den historischen Kontext eingeordnet werden müssen. Der bekannte Soziologe Boaventura de Sousa Santos macht auf drei Zeitbomben aufmerksam, welche wesentlich sind, um den aktuellen Kontext Brasiliens zu verstehen.

Die erste Zeitbombe ist der historische Urgrund der brasilianischen Gesellschaft. Sie ist bis heute durch den Kolonialismus zutiefst in sich gespalten: Herrenhaus und Sklavenhütten; eine oligarchische Oberschicht und ein ausgegrenztes Volk; eine in Luxus schwimmende Elite und eine durch Ungerechtigkeit ausgebeutete Mehrheit. Die soziale Ungleichheit in Brasilien ist absurd, pervers und abstossend.

Genau diese Zeitbombe haben die Regierungen von Lula und Dilma zwischen 2003 und 2016 zu entschärfen versucht. Die unzähligen sozialen Programme sind weltweit anerkannt und respektiert als effektive Formen der Armutsbekämpfung. Doch in Brasilien werden sie als direkte Gefährdung des Status Quo interpretiert. Absolut unradikale Programme, die nichts mehr als wesentliche Grundrechte der Menschen zu sichern versuchen, werden als «linker Extremismus» verteufelt. In Bolsonaro hat die brasilianische Elite ein Sprachrohr gefunden, das wie damals vor dem Militärputsch 1964 für Recht und Ordnung, Familie, Gott und Vaterland einsteht. Im Wesentlichen geht es aber einzig darum, die Profitmaschine Brasilien für die lokalen Eliten und die internationalen Konzerne fit zu halten, ohne dass die Menschen Brasiliens Zugang zu ihrem Teil des produzierten Kuchens bekommen.

Die zweite Zeitbombe ist die niemals aufgearbeitete Vergangenheit der brasilianischen Militärdiktatur. Im Gegensatz zu Argentinien wurde in Brasilien keinem einzigen Militär für die massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht. Eine scheinheilige Amnestie hat eines der dunkelsten Kapitel brasilianischer Geschichte ganz einfach unter den Teppich gewischt. Bis heute sind Militärs von damals aktiv in der brasilinischen Politik beteiligt, und die Armee weigert sich systematisch selbstkritisch die eigene Vergangenheit zu analysieren. Wer die Vergangenheit nicht aufarbeitet, reproduziert diese in der Gegenwart. Die Besetzung Rio de Janeiros durch die Armee seit anfangs Jahr ist ein klares Zeichen. Diese immer latente Möglichkeit einer militärischen Intervention als Ausdruck ein stark präsenten autoritären Ideologie fanden in den vergangenen Wochen in verschiedenen Aussagen von obersten Generälen einen beängstigenden Ausdruck.

Die dritte Zeitbombe schliesslich hat eine lateinamerikanische Reichweite und ist nicht nur auf Brasilien fokussiert. Erstmals sind Detonationen dieser Zeitbombe beim Umsturz der Regierung in Honduras (2009) weltweit sichtbar geworden. Hinter dieser punktuellen Sichtbarkeit steckt ein im ganzen Kontinent wahrnehmbarer Prozess. Nicht nur wie in den achziger und neunziger Jahren durch die massive Verbreitung neofundamentalistischer «Kirchen», sondern jetzt vor allem durch die Infiltration finanzstarker, ultraliberaler Thinktanks aus den Vereinigten Staaten wird auf aggressive Weise eine Amerika treue, markthörige und absolut unkritische Vision der Welt verbreitet. Der rote Faden dieser oft unsichtbaren Strategien ist die Angst der Vereinigten Staaten, die Kontrolle über Lateinamerika zu verlieren. Die Sicherung des Zugangs zu den natürlichen Ressourcen Lateinamerikas und der Versuch, die wachsende Kraft Chinas in Lateinamerika zurückzudrängen, sind die beiden wesentlichen Beweggründe.

Nicht von ungefähr ist es deshalb, dass Trumps Wahlstratege Steve Bannon direkt die Wahlkampagne von Bolsonaro unterstützt. Und Beobachter der digitalen Entwicklungsbewegungen sind überrascht, wie massiv Bolsonaro modernste Technologie des voll personalisierten, digitalen Marketings einsetzt. Wesentliche Kanäle dieses Marketings sind nicht mehr Fernseheprogramme, sondern vor allem Facebook und die noch unkontrollierbareren Whatsapp-Gruppen, die als Plattform seiner Fakenews und Angstmacherei dienen.

Bolsonaro weigert sich, an Debatten teil zu nehmen. Er versteckt sich hinter seinem digitalen Marketing und setzt voll auf seine Eigeninszenierung als Antipolitiker, als einer der gegen das bankrotte politische Establishment vorgeht. Er produziert sich selber als der wahre Vertreter der so ersehnten Veränderungen. Damit führt er den Wahlprozess der formalen Demokratie ad absurdum und scheut sich in keiner Weise, permanent seinen Helden der Militärdiktatur als Weltenretter darzustellen.

Bolsonaro hat sich so zur Schlüsselfigur produziert, um den durch die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 eingeleiteten, langfristigen Umsturzprozess zu konsolidieren. Das zweite Etappenziel war die skandalöse Verurteilung und ungerechte Inhaftierung von Lula (brasilianischer Präsident zwischen 2003 und 2010), der dadurch aus dem Rennen der Präsidentschaftswahlen geworfen wurde.

Noch bleiben zwei Wochen bis zum zweiten Wahlgang (28. Oktober). Die Hoffnung auf einen Sieg von Lulas Kandidat Fernando Haddad, langjähriger Erziehungsminister in seiner Regierung, ist noch nicht erloschen. Doch Fernando Haddad hat einen schweren Stand. Die demokratischen Kräfte versuchen sich zu vereinen, um das autoritäre Horrorszenarium Bolsonaros doch noch abzuwenden. Doch reichen die kommenden zwei Wochen, um die aktuelle Tendenz zu drehen? Die Demokratie Brasiliens steht vor dem Abgrund und die kommenden Tage sind ein Rennen gegen die Zeit…

(tuto)