Was die Wahl von Bolsonaro zum neuen Präsidenten von Brasilien bedeutet, habe ich im letzten Rundbrief breit dargestellt. «Bolsonaro ist Teil der aktuell dominanten, gewalttätigen Verhinderung eines für das Überleben der Menschheit und der Erde absolut notwendigen Wandels. Er gehört zum Team der Ungleichheitsbewahrer und Privilegienschützer. Brasilien ist keine Insel, die dunkle Nacht über Brasilien kein lokal begrenztes Phänomen.» (cf. Gewaltige Regression: nur ein brasilianisches Problem?).

Bolsonaro ist Ausdruck eines zutiefst polarisierten und in sich gespaltenen Landes. Auf der einen Seite eine momentane Minderheit, welche sich engagiert und stark macht für eine effektive Vertiefung der formalen Demokratie; für die Verwirklichung eines Rechtsstaates, der alle Menschenrechte aller Menschen schützt, sichert und garantiert; für die reale Umsetzung der seit 1988 gültigen Verfassung Brasiliens, welche soziale Rechte aller Menschen verankert; für einen Sozialstaat, der die historische Ungleichheit kompensiert, alle sozialen Minderheiten respektiert und allen Menschen würdige Lebensperspektiven ermöglicht.

Auf der anderen Seite konservative Kräfte, die im Status Quo bequem leben, ihre Privilegien verteidigen, jede Form von Sozialpolitik als «Sozialismus» verteufeln und voll auf die «freien» Kräfte des Marktes zählen. In dieser Gruppe formieren sich natürlich ganz verschiedene Kreise: einerseits sicher die Wirtschaftselite und die Ableger multinationaler Konzerne, für die Brasilien eine grenzenlos scheinende Goldgrube ist, die gnadenlos ausgebeutet werden soll. Andererseits aber auch rechtsextreme Kräfte, die Heimweh nach der Gewalt und Repression der Militärdiktatur haben, die Moral und Ordnung mit der Wahrung ihrer Interessen und Privilegien identifizieren. Bolsonaro selber hat in seiner Antrittsrede am 1.1.2019 als explizites Ziel seiner Regierung erklärt, «den Sozialismus und die Genderideologie aus Brasilien zu vertreiben», als ob Brasilien je auch nur ein bisschen sozialistisch gewesen wäre. Über Armutsreduktion, Schaffung von Arbeitsplätzen, Überwindung der sozialen Ungleichheit, soziale Sicherheit usw. verlor er kein Wort.

So werden in den ersten Tagen der Regierung Bolsonaros vor allem jene MinisterInnen der neuen Regierung sichtbar, welche die scheinbar existierende «Gender-Ideologie» verteufeln und den fiktiven «kulturellen Marxismus» in Brasilien bekämpfen. Mit lächerlich mittelalterlichen und irrationalen Argumenten wird die Tagespresse besetzt und die nationale Polarisierung angefeuert.

Hinter dieser provokativ lächerlichen Agenda versteckt sich der ultraliberale Taktstock des Wirtschaftsministers Paulo Guedes, der massive Kürzungen im sozialen Bundesbudget ankündigt, eine massive Privatisierungswelle anstösst und einen Kahlschlag im jetzt schon nur sehr punktuell bestehenden und schwach institutionalisierten Sozialstaat Brasiliens verteidigt. Mit anderen Worten nährt die neue Regierung eine öffentliche Polemik mit rechtsextremen Inhalten und versucht, die extrem neoliberale Wirtschaftspolitik in ihrem Schatten durchzupeitschen. Also so etwas wie einen «spirituellen» Vorbau schafft, der die Unpopularität neoliberaler Wirtschaftspolitik kompensieren und neutralisieren soll.

Die sozialen Konsequenzen der Bolsonaro-Regierung werden wie erwartet massiv sein. Schon in den ersten Massnahmen wurden Mindestlohn und Renten unter der Inflation angepasst. In der angekündigten, radikalen Rentenreform bleiben die jetzt schon privilegierten Gruppen wie Militärs und Judikative ausgeschlossen. Das einzige Opfer wird der kleine Bürger sein, vor alle jene, die mit einem Mindestlohn oder noch weniger zu überleben versuchen.

Doch nicht nur die direkten Massnahmen der Regierung bestätigen düstere Zukunftsperspektiven. Mit der weitergehenden, achtungslosen Rethorik der Regierung gegen Frauen, gegen Minderheiten und gegen soziale Bewegungen werden rechtsextreme, in der Gesellschaft gegenwärtige Kräfte entfesselt, Gewalt gegen Landlose, Indigene und LGBTIQ werden naturalisiert. Camps von Landlosen wurden in den ersten Januarwochen bereits mehrfach angegriffen, indigene Gemeinschaft verschiedentlich vertrieben. Landlose werden als Vagabunden und Terroristen bezeichnet, weil sie «Privateigentum und Grundbesitz» besetzen. Gleichzeitig aber werden indigene Gemeinschaften bedroht und von ihrem Land vertrieben, weil sie die «produktiven Kräfte des Agrobuisness» stören. Mit dem heutigen Dekret des Präsidenten (15.01.2019), den Waffenbesitz zu erleichtern, wird diese Gewalt weiter steigen.

Mehr über den Besuch von Bolsonaro beim WEF in Davos: WOZ – Yves Wegelin – Schwabs autoritärer Geist
Weitere Informationen:
SRF – Brasilien am WEF – Das Agrarministerium will möglichst viel Regenwald abholzen
 (22.01.2019)
Société pour le Peuples Menacés – La Suisse doit défendre les droits des peuples autochtones face au président Bolsonaro – Communiqué de presse (22.01.2019)

Bilder: Julio Torres
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