Wir wissen nicht, ob wir morgen was zu Essen haben

„Ich heisse Débora und lebe in der Favela Anchieta in der Südzone von São Paulo. Ich gehe gerne in die Schule, denn ich bin überzeugt, dass ich nur mit guter Bildung in meinem Leben weiterkommen kann. Seit März ist meine Schule wegen Corona geschlossen und wird dieses Jahr auch nicht mehr mit dem Unterricht beginnen. Erst irgendwann im kommenden Jahr. Von den Privatschulen weiss ich, dass die sehr schnell auf Onlineunterricht umgestellt haben. In den öffentlichen Schulen der Stadt São Paulo, wo ich zur Schule gehe, gibt’s überhaupt nichts in dieser Richtung. Der Unterricht fällt ganz einfach aus, und wir werden ein ganzes Schuljahr verlieren. Hier in Brasilien gibt es in den öffentlichen Schulen Mittagessen für alle Schüler. Aber wenn die Schule geschlossen ist, gibt es natürlich auch nichts zu essen. Meine Mutter verkauft Gewürze auf dem Markt. Seit dem Beginn der Coronakrise verkauft sie viel weniger. Der Verdienst ist viel kleiner geworden. Also müssen wir mit weniger Geld mehr Nahrungsmittel kaufen. Und diese Rechnung kann ja nicht aufgehen. Oft wissen wir nicht, ob wir morgen was zu Essen haben.“

Wachsende Arbeitslosigkeit, zunehmende Kinderarbeit

„Ich bin Marcelo und kenne das Kinderrechtszentrum Interlagos schon lange. Vor ein paar Jahren lebte ich auf der Strasse, weil mein Stiefvater mich immer geschlagen hatte. Ja sicher bin ich auch nicht der Einfachste, aber diese Gewalt war mit nichts zu rechtfertigen. Nach langer Begleitung durch die Sozialarbeiterin des Kinderrechtszentrums habe ich schliesslich den Weg zu meiner Familie wiedergefunden. Ich konnte auch wieder zurück in die Schule und alles schien auf einem guten Weg. Doch dann kam Corona, und mein Stiefvater verlor seine Arbeit. Zuerst begann er zu trinken und jetzt hat er uns sitzen lassen. Meine Mutter ist Hausangestellte im reichen Viertel Morumbi. Doch die Familie, bei der sie arbeitet, weigert sich, ihr einen Arbeitsvertrag zu geben. Und wegen Corona haben sie die Tage reduziert, an denen sie ihr Haus putzen kann. Jetzt macht sie dieselbe Arbeit aber verdient weniger. Und das reicht für sie, meine zwei Schwestern und mich nicht. Jetzt muss ich meiner Mutter helfen. Ich gehe wieder auf die Strasse, aber nur um zu arbeiten. Am Abend komme ich wieder nach Hause. Ich verkaufe Geschirrtücher: drei für zehn Reais. Harte Arbeit und ein geringer Verdienst. Ich frage mich nur, ob ich wieder einmal in die Schule werde gehen können.“

Eine alte Nähmaschine und Stoffresten: jetzt nähen wir Masken!

„Mein Name ist Lúcia. Ich bin in der Favela Alto da Alegria zuhause. Mein Vater und meine Mutter waren immer sehr kreativ und fanden immer wieder neue Formen, das Überleben unserer Familie zu sichern. Seit drei Jahren verkaufen sie Schinken- und Käsebrote neben einer grossen Universität im Zentrum von São Paulo. Mit der Coronakrise blieb die Universität geschlossen und die beiden fanden keine Käufer mehr für ihre Brote. Als die Stimmung hier bei uns so richtig am Boden war, kam meine Mutter plötzlich mit der Idee Masken zu nähen und zu verkaufen. Wir holten eine alte Tretnähmaschine bei meiner Grossmutter und starteten mit der neuen Initiative. Meine Mutter und meine ältere Schwester nähen, ich und mein Bruder verpacken die Masken und mein Vater geht auf die Strasse und wirbt um Käufer. Begonnen haben wir mit alten Stoffresten die wir zuhause und bei unseren Nachbarn ausfindig machen konnten. Der Verkauf der ersten Masken finanzierte den Kauf von Stoff und Faden. Am Anfang war es nicht einfach. Doch seit ein paar Monaten hat sich unsere familiäre Nähkooperative ganz gut eingespielt. Der Verkauf läuft zufriedenstellend, und hier in der Favela verschenken wir viele Masken an unsere Freunde und Bekannten.“

Die Zirkusschule ist geschlossen, doch die Lehrerin kommt zu mir!

„Ich bin Daniel und mir fehlt die Zirkusschule sehr. Denn für mich sind die verschiedenen Aktivitäten dort und das selber organisierte Zusammenleben von Kindern und Jugendlichen ein Raum, der mir sehr viel positive Kraft gibt. Wegen der Coronakrise ist das Projekt geschlossen. Dafür kommt meine Lehrerin jede Woche auf Besuch. Sie bringt mir für eine Woche Material mit Spiel- und Bastelideen für Aktivitäten, ebenso Informationsmaterialien über das Virus und die nötigen Schutzmassnahmen. Durch ihren wöchentlichen Besuch fühle ich mich mit allen anderen Kindern und Jugendlichen verbunden. Ja, wir bleiben so eine grosse Gemeinschaft, ohne dass wir uns direkt treffen können. Aber die Lehrerin bringt mir nicht nur spielerische Ideen, sie fragt auch immer wie es hier in unserer Favela so geht, ob ich von schwierigen Situationen wisse, von Fällen häuslicher Gewalt, die in diesen Wochen massiv zugenommen haben. Jede Woche gebe ich ihr auch irgendein Lebensmittel mit, wenn hier zuhause was übrig ist. Im Projekt wird dann alles gesammelt und geht an jene Familien, denen es an allem fehlt. So versuchen wir aus dieser Krise das beste zu machen. Das Zusammenwachsen als Gemeinschaft ist für mich das Wichtigste.“

Kinderrechtszentrum Interlagos: Kindern eine Zukunft sichern, trotz allem!

Wie ein roter Faden zieht sich die Unterstützung des Kinderrechtszentrums Interlagos durch die vom Verein Novo Movimento unterstützten Projekte.

Im Projekt TREFFPUNKT KINDERRECHT können Kinder, Jugendliche und ihre Familien erlittene Gewalt und systematische Verletzungen ihrer Menschenrechte denunzieren. Sie werden angehört und ernst genommen. Das Projekt sichert psychosoziale Begleitung, um die durch häusliche Gewalt, Todesschwadrone, Militärpolizei und Drogenhandel produzierten Wunden und Traumata zu überwinden. Das Projekt deckt den ganzen Stadtteil Interlagos (Capela do Socorro, Grajaú und Parelheiros – Südzone von São Paulo) mit vier tiefschwelligen Anlaufstellen ab. Monatlich werden fünfhundert Kinder, Jugendliche und ihre Familien begleitet.

Ist das Projekt TREFFPUNKT KINDERRECHT Antwort auf die grassierende Gewalt, versucht das Projekt NETZWERK KINDERRECHT, gemeinschaftliche und kulturelle Initiativen von Kindern und Jugendlichen in den Favelas von Interlagos zu stärken. In ihnen werden Kinder und Jugendliche selber aktiv und verteidigen ihre Rechte. Gemeinsam arbeiten sie an der Veränderung ihrer gewaltigen Lebenswelt mit. Das Herzstück des Projektes ist die Zirkusschule (Circo Escola), wo vierhundert Kinder und Jugendliche in kreativen und schulbegleitenden Workshops ein Netz des Vertrauens und der Gemeinsamkeit aufbauen, das Bewusstsein für die erlittene Wirklichkeit stärken und vor allem die Wertschätzung ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Potenziale und Möglichkeiten stärken. Musik und Gesang, trommeln und tanzen, Akrobatik und Theater sind viel mehr als nur schulbegleitende Aktivitäten. Der Schlüssel zum Erfolg sind unmittelbare Beziehungen des Vertrauens und konkrete Erfahrungen verändernder Gemeinsamkeit. In lokalen Initiativen in weiteren zwanzig Favelas finden zusätzlich 500 Kinder und Jugendliche einen sicheren Raum, um Kind sein zu können. Im Projekt ist ihr Recht auf Spiel und Sport gesichert, sie stärken individuell und gemeinschaftlich ihre Resilienz und arbeiten miteinander an Perspektiven eines Lebens in Würde und Gerechtigkeit.

Insgesamt ist das Kinderrechtszentrum zu einer grossen Organisation gewachsen, die in seinem Team mehr als sechzig Mitarbeiter*innen vereint. Seit vergangenem Jahr ist das Kinderrechtszentrum Teil der Koordination des Zusammenschlusses der brasilianischen Kinderrechtszentren und erweitert durch diese Vernetzungsarbeit seinen Wirkungskreis in ganz Brasilien.

Zu 90% werden die Projekte des Kinderrechtszentrums lokal (vor allem durch das Sozialamt der Stadt São Paulo) finanziert. Die ergänzende Finanzierung durch Novo Movimento bleibt aber von wesentlicher Bedeutung. Denn zum einen sichert sie jene Projektkomponente, welche durch die Stadt São Paulo nicht finanziert werden. Dabei handelt es sich vor allem um die juristische Verfolgung von spezifischen Rechtsverletzungen und um die konsequente Einforderung der Verantwortung der lokalen Regierungsinstanzen in der Umsetzung der gesetztlich gesicherten Kinderrechte. So verfügt das Kinderrechtszentrum um die nötige Autonomie, um auch gegen den Staat selber vorgehen zu können (da bis heute der Staat selber der häufigste Akteur von Kinderrechtsverletzungen ist).

Ganz am Anfang dieser verschiedenen Berichte über das bedrohte Brasilien haben wir Helena auf ihren Wegen zu den Kindern und Jugendlichen der Zirkusschule begleitet. Helena steht als Beispiel für die Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen, Psycholog*innen und Rechtsanwält*innen, welche in mutiger Zusammenarbeit den gewaltigen Herausforderungen der brasilianischen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden versuchen. Heute ist sicher die Tatsache bedrückend, dass die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte und Verbesserungen jetzt durch die Folgen der Coronakrise und der menschenverachtenden Regierung erneut zerstört werden. Dennoch ist es immer wieder tief beeindruckend, das Strahlen im Gesicht der Mitarbeiter*innen und der begleiteten Kinder zu sehen. Es ist Ausdruck für die Sicherheit und die Überzeugung, trotz aller Gefahren und Risiken auf die Glaubwürdigkeit der im Alltag gelebten Hoffnungen zu vertrauen.

(tuto)