Maria Nazareth Cupertino koordiniert seit einem Jahr die Zirkusschule (Circo Escola) des Kinderrechtszentrums Interlagos. Die Zirkusschule ist wichtiger Teil des Projektes Netzwerk Kinderrecht, das sichere und geschützte Räume für Kinder in der Südzone von São Paulo vernetzt (siehe Projekterklärung auf der letzten Seite). Durch Gewalt geprägte Kinder und Jugendliche finden einen Ort der Ruhe und des Vertrauens, wo sie sich von den Fängen der Gewalt zu befreien versuchen und gleichzeitig selber zu Mitarbeitern einer Kultur des Friedens werden. Musik und Gesang, Trommeln und Tanzen, Akrobatik und Theater sind viel mehr als nur schulbegleitende Aktivitäten. Dank psychosozialer Begleitung werden Traumata überwunden und der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen. Das ist eine wichtige Arbeit in einem stets herausfordernden Kontext. Der Schlüssel zum Erfolg sind unmittelbare Beziehungen des Vertrauens und konkrete Erfahrungen verändernder Gemeinsamkeit.
Maria Nazareth, du arbeitest seit zwei Jahren im Kinderrechtszentrum Interlagos und seit einem Jahr koordinierst du die Zirkusschule. Wie hat dein Weg dich zum Kinderrechtszentrum Interlagos gebracht?
Schon Ende der Neunzigerjahre bin ich dem Kinderrechtszentrum Interlagos begegnet. Ich studierte Psychologie in Guaratinguetá, im Landesinnern des Bundesstaates São Paulo. Schon sehr früh hatte ich mich aktiv für die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen engagiert. Wir kämpften für die Umsetzung der hoffnungsvollen Perspektiven der damals neuen Verfassung von 1988, welche nach den langen Jahren der Militärdiktatur endlich soziale Rechte auf höchster Ebene verankerte.
Als es darum ging, in Guaratinguetá einen Kinderschutzrat aufzubauen, wurden wir durch das Kinderrechtszentrum Interlagos begleitet und beraten. Schon damals wurde das Kinderrechtszentrum für mich zu einer wichtigen Referenz. Vor gut fünfzehn Jahren zog ich nach São Paulo und arbeitete mit Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Auch war ich langjährig in Projekten mit Kindern und Familien, die auf der Strasse um ihr Überleben kämpften, tätig. Als Mitglied des Menschenrechtsrates des Bundesstaates São Paulo bin ich natürlich dem Kinderrechtszentrum immer wieder begegnet, doch erst vor zwei Jahren bin ich dann endlich in seinem Team gelandet. Ich freue mich sehr, mit diesem grossen Kollektiv unterwegs sein zu dürfen, und ich bringe viel Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit.
Wie sieht die Arbeit in der Zirkusschule in Coronazeiten aus?
Obwohl die nationale Regierung die Gefahr des Coronavirus permanent bagatellisiert und so ein kohärentes Vorgehen gegen die Auswirkungen des Virus stört und behindert, musste die Gemeinde São Paulo im vergangenen Monat April alleine Massnahmen ergreifen, um die explosive Verbreitung des Virus zu bremsen. Die Massnahmen haben spät eingesetzt, werden permanent von der Zentralregierung torpediert und haben deshalb nur eine sehr geringe Wirkung erzielt. Das Projekt selber wurde durch die Stadtregierung per Dekret geschlossen. Seit Wochen sind die Kinder und Jugendlichen zuhause. Aber was heisst hier „zuhause“… Das Ziel der Massnahmen zur sozialen Distanzierung und Quarantäne sind sicher wichtig und können auch wirksam sein. Doch in einem Kontext, wo Menschen in engen Favelas zusammengepfercht leben oder gar auf der Stasse sind, greift natürlich soziale Distanzierung zu kurz. Denn paradoxerweise bedeutet zuhause bleiben für eine Familie, die kein Dach über dem Kopf hat, auf der Strasse zu sein, also gerade dort, wo man nicht sein sollte.
Dazu kommt, dass die Mehrheit der Menschen hier in der Südzone von São Paulo kaum Zugang zu formalen Arbeitsplätzen hat. Sie arbeiten im sogenannten „informellen Sektor“, das heisst, auf eigene Faust, als Strassenverkäufer, als Hausangestellte, etc. Sie haben keinen Arbeitsvertrag und damit natürlich auch keine sozialen Versicherungen. Das einzige, was sie haben, ist ihr Einkommen, das sie sich täglich erkämpfen müssen. Und wenn sie „zuhause“ bleiben müssen, dann haben sie eben gar kein Einkommen. Damit wächst einerseits Hunger und Armut, und andererseits nimmt die Gewalt in den Familien durch diese Frustration und Notsituation explosiv zu.
Genau jetzt brauchen die Kinder und Jugendlichen unsere Begleitung mehr denn je. Wir versuchen über Handy, Facebook, Whatsapp den Kontakt zu ihnen zu sichern. Aber natürlich funktioniert das nur bruchstückhaft. Denn oft haben die Kinder und Jugendlichen keinen Zugang zu Handys oder Internet. Deshalb ist im Projekt immer ein Teil des Teams gegenwärtig, um auf Notsituationen antworten zu können.
Wie wird São Paulo nach dem Coronavirus aussehen?
Soziale Distanzierung und Quarantäne sind sicher wichtig und richtig. Aber im brasilianischen Kontext, ja im Kontext des globalen Südens sind diese Massnahmen alleine ganz einfach ungenügend. Auch die Bedingungen eines würdigen Überlebens müssen gesichert werden! Genau das geschieht eben nicht. Bis der Höhepunkt der Krise erreicht ist, wird es noch einige Zeit brauchen. Auf alle Fälle bin ich sicher, dass wir eine Stadt mit mehr Armut haben werden, mit zunehmender Arbeitslosigkeit, Hunger und Notsituationen. Ich denke, São Paulo wird zu einer noch schwierigeren Stadt für Kinder und Jugendliche werden. Doch gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Organisationen und Bewegungen werden wir nicht tatenlos dastehen. Wir werden tun, was wir am besten können: Widerstand leisten und an konkreten Lösungen arbeiten.
(tuto)