Raimundo Bonfim ist in der grössten Favela von São Paulo gross geworden. Mit knapp zweihunderttausend Einwohnern ist die Favela Heliópolis vergleichbar mit einer mittelgrossen Stadt. Auf engstem Raum und in sehr prekären Verhältnissen, ist sie aber trotzdem nur ein kleiner Fleck im Stadtteppich von São Paulo. Raimundo kommt ursprünglich aus dem Nordosten Brasiliens, kam als Jugendlicher nach São Paulo auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, auf der Flucht vor der Dürre, getrieben von der Hoffnung nach Leben und Würde. In der Favela und in der breiten gemeinschaftlichen Organisation von Heliópolis ist er gewachsen und ist heute nationaler Koordinator der brasilianischen Vereinigung der Volksbewegungen (Central de Movimentos Populares – CMP).

Erzähl uns ein bisschen von deiner Geschichte und deinem Werdegang!

Ich heisse Raimundo Bonfim und bin 56-jährig. Ich bin als Kind landloser Bauern im Bundesstaat Piauí geboren. Meine Eltern pachteten ein Stück Land und mussten von ihrer Ernte immer einen Viertel an den Landbesitzer abgeben. So kämpften wir ums Überleben, bis es ganz einfach nicht mehr ging, und wir nach São Paulo abwanderten. Wir suchten ein besseres Leben, landeten aber in der grössten Favela von São Paulo. Und die Favela ist zu meiner Lebensschule geworden. Ich beteiligte mich sehr schnell an der Organisation der Familien. Gemeinsam kämpften wir für den Zugang zu Strom und Wasser und für die Verbesserung der Wohnverhältnisse. Bei diesem Engagement wurde ich sehr stark von den kirchlichen Basisgemeinden und der Befreiungstheologie geprägt. Wir glaubten schon damals an die vereinte Kraft der Gemeinsamkeit und lehnten das unterwürfige Hinnehmen der Realität, der Ungerechtigkeit und Ausbeutung ab. Wir organisierten uns, bündelten unsere Stimmen, um als Menschen mit Würde und Rechten wahrgenommen zu werden. In den Neunzigerjahren vertrat ich die Favela Heliópolis beim Aufbau der Vereinigung der Volksbewegungen. Dank diesem Engagement schaute ich immer auch über den Tellerrand unserer Favela hinaus. Ich holte meine Schulbildung nach, studierte Jura und bin heute Rechtsanwalt. Mein Wissen und meine Erfahrung setze ich aber nicht für meine persönliche Karriere ein, sondern für den Dienst an den Ärmsten. Zuerst war ich lange Zeit im Vorstand der CMP im Bundesstaat São Paulo, und seit 2017 bin ich nationaler Koordinator der Vereinigung.


Die Vereinigung der Volksbewegungen (CMP – Central de Movimentos Populares) ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Was sind die Ziele der Organisation?

Die ausgebeuteten, armgemachten Menschen sind in Brasilien in der Mehrheit. Die Menschen versuchen natürlich, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren, doch sind diese Erfahrungen des Widerstandes meist sehr lokal begrenzt und stark fragmentiert. Genau dieses Problem zu überwinden ist das Ziel der CMP. Die CMP ist eine nationale Vereinigung von Basisinitiativen und Gemeinschaftsorganisationen und entstand als kleines, loses Netzwerk, das in der Zwischenzeit zu einem national respektierten Akteur geworden ist. Sie vereinigt Initiativen, die sich z.B. für die Verbesserung des Schul- oder Gesundheitssystems einsetzen, die sich gegen Rassismus und für die Rechte der Frauen stark machen, sich für würdiges Wohnen und die Rechte der Kinder engagieren. Und alle gemeinsam kämpfen wir für die Priorisierung von Sozialpolitik, die zwar vom Staat koordiniert werden soll, aber gleichzeitig die Mitbestimmung der betroffenen Menschen ermöglichen muss. Die CMP will der Vielfalt und Vielzahl von Projekten und Initiativen, von Basisbewegungen und Organisationen ein gemeinsames Gesicht und eine starke Stimme geben, damit wir sichtbar werden und uns hoffentlich immer besser für die Rechte der Menschen einsetzen können. Das ist leider keine gradlinige Entwicklung, sondern ein permanentes Auf und Ab, ein ewiges Ringen… und gerade heute keine einfache Angelegenheit…


Brasilien steckt mitten in einer doppelten Krise: einerseits in einer politischen Krise mit einer extrem tiefen Spaltung der brasilianischen Gesellschaft, die in der rechtsextremen Zentralregierung und im wachsenden Widerstand gegen sie zum Ausdruck kommt. Andererseits die Corona-Krise, welche die ganze Welt in ihrem Bann hält und Brasilien besonders trifft. Wie geht in diesem Kontext die CMP vor?

Wir versuchen, die sehr fragile Basis der brasilianischen Demokratie gegen Autoritarismus und Faschismus, zwei klare Charakterzüge der aktuellen Regierung, zu verteidigen. Wir vereinigen uns mit allen gewillten zivilgesellschaftlichen Organisationen und gewerkschaftlichen Vereinigungen und engagieren uns, um Menschenrechte zu sichern und demokratisches Zusammenleben weiterhin möglich zu machen. Diese Spannung wird auch in der Coronakrise sehr deutlich. Die Zahl der Coronatoten wächst weiter sprunghaft und Brasilien klettert im Ranking der am stärksten betroffenen Länder beharrlich nach oben. Gleichzeitig sagt die Regierung bis heute, Corona sei nur eine kleine Grippe. Der Kampf gegen das Virus ist unkoordiniert und deshalb unwirksam. Gleichzeitig priorisiert die Regierung die wirtschaftlichen Interessen der Wenigen und nicht den Schutz des Lebens aller. Dazu kommt, dass Brasilien als riesiges Land, mit vielen gigantischen Metropolen ohne Infrastruktur und Sozialpolitik, noch längst nicht den Höhepunkt der Krise erreicht hat.

Die CMP hat anfangs April mit einer nationalen Kampagne begonnen, Lebensmittel für die am stärksten betroffenen Familien zu sammeln. Bis heute gelang es uns, beinahe 900 Tonnen Lebensmittel an Familien in Favelas und am Rand der Städte zu verteilen. Natürlich wissen wir, dass das eigentlich in der Verantwortung der Regierung wäre. Doch wir können nicht einfach zuschauen und warten. Wir versuchen das uns Mögliche. Gleichzeitig produzieren verschiedene Nähkooperativen Mund- und Nasenschutz, und andere Initiativen stellen Seife her. In vielen Favelas sind in den letzten Wochen ebenfalls unzählige Gemeinschaftsküchen entstanden, um das unmittelbare Überleben der Menschen zu schützen.

Die herrschende Normalität vor der Coronakrise ist ja eigentlich die Ursache dieser Krise. Deshalb kann es ja nicht das Ziel sein, ganz einfach zu jener „Normalität“ zurückzukehren. Welche Perspektiven siehst du für die Zukunft?

Unser Leben vor der Krise war schon überhaupt nicht „normal“. Natürlich versuchen die Medien und die Regierung soziale Ungleichheit und Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger zu verdecken und auszublenden. Trotzdem sind das seit vier Jahren wieder wachsende Wirklichkeiten unseres Alltages. Jetzt, mitten in der Coronakrise, sind wir dorthin zurückgeworfen, wo wir schon so oft waren: im nackten Kampf ums Überleben. Die Lösung kann aber trotz absolut nötiger sozialer Distanz, um die Verbreitung des Virus zu bremsen, nicht bei individuellen Lösungen bleiben. Heute noch stärker denn je und schneller als das Virus, müssen wir an der Verbreitung einer solidarischen Beziehungsweise unter uns arbeiten. Das bedeutet, von den Regierungen Massnahmen zur Stärkung der gesundheitlichen Versorgung, zur Einkommens- und Ernährungssicherung einzufordern. Aber so lange von dort keine Lösungen kommen, organisieren wir uns gleich selber. Denn das Virus hält zwar weder vor Grenzen noch vor Klassen, doch die Bedingungen gegen das Virus zu überleben sind so ungleich wie unsere gesellschaftliche Struktur. Am Rand der Stadt tötet das Virus viel mehr, denn die Menschen sind ungeschützt, und die nötige gesundheitliche Infrastruktur ist nicht vorhanden. Ist ja klar, wenn seit gut vier Jahren die gesamte Gesundheitspolitik dem Privatisierungsdruck ausgesetzt wird. Mit der Gesundheit ausgegrenzter Menschen lässt sich halt kein grosser Profit machen.

Mittelfristig müssen wir darum kämpfen, dass Armut und Ungerechtigkeit nicht weiter einfach „normalisiert“ und naturalisiert werden können. Die Perversität der wieder wachsenden, sozialen Ungleichheit darf nicht als normal hingenommen werden. Sie gehört nicht einfach dazu, weil es sie schon immer gegeben hat. Es hat sie immer schon gegeben, weil die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Ländern diese Ungleichheit systematisch produziert haben. Wir müssen unser Land so schnell wie möglich von den aktuell regierenden „Veränderungsverhinderern“ befreien und weiter an einer Kultur des Friedens, des Respektes und des demokratischen Zusammenlebens arbeiten.

In diesem Kontext den Glauben und die Hoffnung nicht zu verlieren, ist sicher eine alltägliche Herausforderung. Wo findest du, Raimundo, jeden Tag die so lebenswichtigen Samen der Hoffnung?

Tatsächlich komme ich kaum zur Ruhe. Trotz Corona und sozialer Distanz ist meine Agenda voller denn je. Als nationaler Koordinator habe ich natürlich eine grosse Verantwortung. Darum muss ich einfach weiterarbeiten und versuchen, Lösungsmöglichkeiten zu finden. Ich weiss, was Hunger bedeutet, denn ich habe das in meinem eigenen Leben erlitten. Sicher ist gerade meine Lebensgeschichte ein Motor der Hoffnung, dass Veränderungen nicht nur nötig, sondern auch möglich sind, auch in noch so aussichtslosen Situationen.

Ich kann einfach nicht zuschauen, wenn Familien, die Hilfe brauchen, gedemütigt werden, wenn ihnen aus bürokratischen Gründen die staatliche Finanzhilfe verwehrt bleibt. Das darf nicht sein. Und die Samen meiner Hoffnungen finde ich bei den Menschen selber, die trotz aller Widrigkeiten des Alltags mit Mut und Freude einem System widerstehen, das Menschen unterdrückt und Reichtum konzentriert.

(tuto)