(Der vorliegende Text wurde im Mai 2021 geschrieben. In der Zwischenzeit hat Brasilien die perverse Marke der 600 Tausend Coronatoten überschritten. In vielen Bundesstaaten sind zwar massive Impfkampagnen trotz der systematischen Störungsarbeit der Bundesregierung angelaufen und die monatlichen Zahl der tödlichen Opfer sinkt. Dennoch bleibt sie auf relativ hohem Niveau stabil und der Text bleibt verstörend aktuell. Tuto B. Wehrle)

Brasilien hat mittlerweile über 460.000 Todesopfer verzeichnet. Das sind über 13% der weltweit registrierten Zahl an Todesopfern (3,4 Mio.), wobei die Bevölkerung Brasiliens weniger als 3% der Weltbevölkerung ausmacht. Ein Viertel der Gesamtzahl der Todesopfer in Brasilien allein in São Paulo: deutlich mehr als z.B. in ganz Deutschland.

Auch die Gesamtkurve der Coronainfektionen verläuft stark anders als z.B. in der Schweiz. Nicht relativ kurze Wellen mit markanten Höhepunkten, sondern eine permanent hohe Kurve mit langgezogenen Wellen. Die zweite war bisher die stärkste mit bis zu viertausend Todesfällen pro Tag. Bis vor wenigen Tagen schien es, als ob diese zweite Welle jetzt langsam abflachen würde, doch bereits beginnt der Aufstieg zu einer dritten Welle und in São Paulo beginnen die kühleren Wintermonate.

Es ist also abzusehen, dass Brasilien wie auch Indien im tragischen Ranking der Todesfälle pro Land selbst die USA noch überholen werden. Zahlen und Rekorde überschlagen sich von Woche zu Woche. Und irrational ist die Gefahr, hinter den immer weiter wachsenden Zahlen, die Tragik der unzähligen Menschenleben zu vergessen. Hinter jeder einzelnen Covid19-Geschichte versteckt sich ein verzweifelndes Ringen um Luft, der oft erfolglose Kampf um den Zugang zu minimaler medizinischer Versorgung. Auch ist es eine erschütternde Tatsache, dass das Leben der Menschen trotz aller Gleichheit an Würde, dennoch abhängig von der biologischen Lotterie extrem ungleich behandelt wird.

In der Coronapandemie ist es nicht anders als in den vergangenen Krisen der letzten Jahre. (Finanzkrise, Migrationskrise, Klimakrise und jetzt die Coronapandemie): Die Folgen der Krisen treffen jene stärker, die weniger für deren Ursachen verantwortlich sind. Auch die Coronakrise steht in direktem Zusammenhang mit dem modernen Weltsystem: eine expandierende Maschinerie aus Beschleunigung, Wachstum und Akkumulation mit der Konsequenz der Geldvermehrung für das obere Fünftel der Weltsozialstruktur. Der lateinamerikanische Schriftsteller Eduardo Galeano hat es schon 1994 absolut treffend formuliert: „Das Lebenssystem, das uns das Paradies verspricht, doch nur durch Ausbeutung von Menschen und Vernichtung der Natur möglich wird, macht unseren Körper krank, vergiftet unsere Seelen und lässt uns ohne Welt zurück“.

Die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 steht in direktem Zusammenhang mit unseren Produktions- und Konsumweisen. Denn das Risiko des Überspringens von Viren von Tieren auf Menschen wird durch unseren Ressourcenverbrauch, durch die Abholzung von Wäldern und die Zerstörung ursprünglicher Lebensräume massiv erhöht. Doch das Infektionsrisiko, das Risiko von schweren Krankheitsverläufen und die Möglichkeit, mit den Pandemiefolgen umzugehen, all das ist global sehr ungleich verteilt. Als Folgen der Pandemie steigen weltweit Hunger und Elend. Die Zahl der Strassenkinder und damit auch die Kinderarbeit nimmt mit jedem Tag zu.

Die Tatsache, dass die Ungleichheiten sich immer weiter vertiefen, ist ernüchternd. Noch erschreckender jedoch ist die Wahrnehmung der kausalen Verbundenheit zwischen der Zerstörung der Lebenschancen von Vielen und der imperialer Lebensweise der Wenigen. Genau das spiegelt sich auch in der sogenannten Apartheid der Impfstoffe. Zehn Länder beanspruchen 75% aller existierenden Impfstoffe. Doch diese globale Abspaltung und Abgrenzung ist eine verhängnisvolle Illusion, denn die politischen Grenzen sind keine biologischen. Ausserhalb der durch Impfungen geschützten Räume, also in den Nationen ohne oder mit zu wenig Impfstoffen, wird das Virus weiter mutieren, und von dort immer auch wieder zurückkommen.

Diese Apartheid der Impfstoffe trifft auf den Grossteil der Länder des globalen Südens zu, beschreibt aber nur teilweise die Wirklichkeit Brasiliens. Denn Brasilien verfügt über langjährige, international immer wieder gelobte Erfahrungen, nicht nur in der Umsetzung von Massenimpfungen, sondern selbst in der Produktion von Impfstoffen. Der für Brasilien entscheidende Faktor für das Coronadrama ist ganz klar die absolut desaströse Haltung der Regierung Bolsonaro. Dieser spielt die Pandemie als „kleine Grippe“ herunter, nennt Maskenträger „Weichlinge“ und beschimpft jene als „Idioten“, die trotz aller Schwierigkeiten versuchen, soziale Distanz zu ermöglichen.


Noch schlimmer als diese die Ernsthaftigkeit der Pandemie leugnende Haltung, welche die Interessen der Wirtschaft über den Schutz des Lebens stellt, ist seine bewusste und systematische Sabotage aller Bemühungen des Zuganges zu Impfstoffen. Und gerade weil in Bolsonaros Brasilien die Viren weitgehend ungehindert zirkulieren, drohen immer neue Mutationen. Damit ist Bolsonaro nicht nur eine Gefahr für Brasilien, sondern wird immer mehr auch zu einem globalen Risiko. Wenigstens gelang es, im Senat eine parlamentarische Untersuchungskommission einzurichten, die jetzt sehr klar die abgrundtiefe Verantwortungslosigkeit der Regierung aufzeigt. Der Druck auf Bolsonaro wächst nicht nur im Parlament, sondern auch auf der Strasse. Luis Inácio Lula da Silva, dem ehemaligen Arbeiterpräsidenten, gelang es, die Illegalität der Prozesslawine gegen ihn zu beweisen. Alle Prozesse und Urteile wurden durch den obersten Gerichtshof annulliert. Lula ist zurück auf dem politischen Parket, und mit ihm wächst auch die Hoffnung auf Veränderung.

Hinter der Bühne der Coronapolitik verbergen sich zwei weitere, extrem Besorgnis erregende Tendenzen. Einerseits wächst im Zuge der Todespolitik von Bolsonaro die Militarisierung und damit die repressive Gewalt in den grossen urbanen Zentren Brasiliens. Das Massaker in der Favela Jacarezinho (Rio de Janeiro), bei dem anfangs Mai 29 Menschen bei einem Polizeieinsatz wahllos erschossen wurden, ist ein Beispiel dieser Tendenz. Auch das Kinderrechtszentrum Interlagos sieht sich zunehmend mit dieser Herausforderung konfrontiert. Kinder, Jugendliche und Menschenrechtsaktivisten werden immer stärker zu Zielscheiben repressiver Politik.

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Eine zweite Tendenz ist die wachsende Zerstörung der Natur und die zunehmende Bedrohung der sie schützenden indigenen Völker. Der brasilianische Umweltminister Ricardo Salles, der oft als „Umweltzerstörungsminister“ betitelt wird, steht selber im Verdacht, in den illegalen Holzhandel aus dem Amazonasgebiet verwickelt zu sein. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren die Abholzung im Amazonasgebiet extrem gestiegen. Die Zunahme im vergangenen Jahr liegt im Vergleich zu 2019 bei 30%, und auch 2019 war bereits ein Rekordjahr. Abgeholzt wird nicht nur für den illegalen Holzhandel. Abholzung ist immer auch Teil der Expansion des brasilianischen Agrobusiness. Brasilien ist der zweitgrößte Rindfleischproduzent der Welt und der weltgrößte Produzent von Sojabohnen. Allein die brasilianische Sojaproduktion nutzt eine Fläche, die neunmal so gross ist wie die gesamte Schweiz. Und trotz Coronapandemie wuchs im vergangenen Jahr das brasilianische Agrobusiness um 24%.

Genau auf diesen durch Bolsonaro stark angefeuerten Sektor fokussiert sich die im September 2020 gegründete UBS BB Investment Bank. Sie ist ein Zusammenschluss der UBS, der grössten Bank der Schweiz, mit der brasilianischen Banco do Brasil. Gemäss Sylvia Coutinho, Leiterin der UBS Geschäfte in Brasilien, fokussiert sich die UBS BB Investment Bank vor allem auf das massiv expandierende brasilianische Agrobusiness, steht den Fleisch- und Sojaproduzenten mit Krediten zur Seite und verwaltet ihre Vermögen. Natürlich, so die Werbung, unterstützt die UBS BB Investment Bank nur nachhaltige Fleisch- und Sojaproduktion. Der brasilianische Staatsanwalt Daniel Azeredo widerspricht dem klar: „Kein Unternehmen, das aus dem Amazonasgebiet kauft, kann sagen, dass es keine Rinder aus der Abholzung in seiner Produktion hat“. Denn bis ein Rind auf das Fliessband der Fleischproduktion gelangt, durchläuft es bis zu zehn Rinderfarmen. Aber höchstens die letzte Farm wird auf die Legalität der Rinderzucht kontrolliert. Damit wird einmal mehr klar, dass Bolsonaro und das Agrobusiness im Amazonasgebiet nicht nur ein brasilianisches Drama sind. Beide sind Teil einer globalen Megamaschine, deren einziges Ziel die Mehrung von Profit ist, koste es, was es wolle.

(tuto)