Von Bolsonaro, dem aktuellen Präsident Brasiliens, muss ich euch schon gar nichts mehr schreiben. Zum einen ist es schade um die Tinte, zum anderen ist er sowieso in aller Presse. Der Mann wirft das wenige, das in Brasilien noch funktionierte, über den Haufen und lässt einen riesigen Scherbenhaufen zurück. Noch ein Jahr gilt es auszuhalten, dann sind Wahlen. Aber wer weiss, vielleicht wird er doch noch wegen Korruption und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorher abgesetzt.

Brasilien ist aus meiner Perspektive immer ein Land, das wie ein Brennglas die Realität unserer Welt darstellt. Auf der einen Seite eine unglaubliche Biodiversität mit natürlichem Reichtum, der ohne Schwierigkeiten den über 200 Millionen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen könnte. Auf der anderen Seite das gesellschaftliche Erbe der Sklaverei, die Ausbeutung afrikanischer und indigener Menschen mit dem konsequenten Auftürmen von Profit und Reichtum in der Hand einer kleinen Gruppe. Auf der einen Seite Menschen, die dieser Gewalt widerstehen und nach einem Leben ohne Ausbeutung und Ungerechtigkeit suchen, auf der anderen Seite die Veränderungsverhinderer, die sich an ihre Privilegien krallen und mit aller Macht den Status Quo verteidigen.

Ein Tag, der viel erklärt

Anfangs November beim Beginn der UN-Klimakonferenz in Glasgow wird Brasilien an einem einzigen Tag zu einem ganz speziellen Brennglas unserer weltweiten Wirklichkeit. Bei der Eröffnung der Klimakonferenz in Glasgow spricht die junge Txai Surui vom indigenen Volk der Paiter Surui (Amazonasgebiet, Bundesstaat Rondônia). Sie ist Tochter von Almir Surui, Anführer des Paiter Surui Volkes, studiert Rechtswissenschaften und will die erste Rechtsanwältin ihres Volkes werden. „Ich bin Txai Surui, ich bin erst 24 Jahre alt, aber mein Volk lebt schon seit mindestens 6.000 Jahren im Amazonaswald. Mein Vater lehrte mich, dass wir auf die Sterne, den Mond, den Wind, die Tiere und die Bäume hören müssen. Heute erwärmt sich das Klima. Die Tiere verschwinden, die Flüsse sterben, und unsere Pflanzen blühen nicht mehr wie früher. Die Erde spricht. Sie sagt uns, dass wir keine Zeit mehr haben. Wir brauchen einen anderen Weg“.

Am selben Tag bleibt Bolsonaro in Rom. Dort war er beim Treffen der G20-Staaten, wurde von den anderen Regierungschefs permanent gemieden, sodass er selbst das Abschlussfoto am Trevibrunnen verpasste. Bolsonaro bleibt bei seinem Entscheid, er geht nicht nach Glasgow. Die Angst vor dem Druck anderer Länder gegen seine rücksichtslose Umweltpolitik des Raubbaues ist grösser als seine Verantwortung als Präsident des grössten Landes Lateinamerikas. Bolsonaro bleibt in Rom, versucht in der Menge unterzutauchen, um wie irgendein Tourist auf Shoppingtour zu gehen. Journalisten lokalisieren ihn und sprechen ihn auf die Rede von Txai Surui an. „Was ist das denn für eine“, meint Bolsonaro. „Die ging doch nur nach Glasgow, um über Brasilien zu meckern“.

Zur selben Zeit wird ein versteckt gedrehtes Video publik. Es zeigt André Esteves, Besitzer der Investitionsbank BTG Pactual, an einem Vortrag vor Kunden und Investoren seiner Bank. Prahlend erzählt er ohne Hemmungen, wie die Bolsonaroregierung systematisch bei ihm Rat holt, wie die Finanz- und Wirtschaftspolitik gestaltet werden soll. Unverhohlen stellt er sich als den politischen Drahtzieher dar und lobt vor allem den Präsidenten der brasilianischen Zentralbank, der auf sein Geheiss die Zinspolitik angepasst habe. André Esteves sieht keinen Veränderungsbedarf. Seine Kassen klingeln, die Gewinne der brasilianischen Banken verzeichnen ein steiles Wachstum. Übrigens: bevor André Esteves Besitzer von BTG Pactual wurde, war er Geschäftsführer von UBS BTG, dem brasilianischen Zweig der Schweizer UBS, den er 2009 im Kontext der globalen Finanzkrise der UBS abgekauft hatte.

Am selben Tag sitzt schliesslich Raimundo Bonfim, Koordinator der Vereinigung brasilianischer Volksbewegungen (Central de Movimentos Populares – CMP) im Gemeinschaftszentrum der Favela Heliopolis und organisiert die Verteilung von Lebensmittelpaketen. „Während der Mindestlohn in den letzten Jahren stagniert, sind die Kosten der Grundnahrungsmittel in Brasilien innerhalb eines Jahres um mehr als 40% gestiegen“, erklärt Raimundo, der bereits im vorletzten Rundbrief von Novo Movimento aus seinem Leben erzählte. „Gleichzeitig wächst die Arbeitslosigkeit, und die Konsequenz sehen wir auf den Strassen von São Paulo. Mit jedem Tag wächst die Zahl der Menschen, die kein Zuhause mehr haben und auf der Strasse um ihr Überleben kämpfen. Noch vor wenigen Jahren meinten wir, dass Hunger in Brasilien ein Phänomen der Vergangenheit sei. Jetzt ist es wieder da und zwar mit voller Wucht. Die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, knapp mehr als 100 Millionen Menschen, kämpfen mit Ernährungsknappheit, und über 20 Millionen leiden systematisch Hunger. Und das in einem Land wie Brasilien, das die halbe Welt ernähren könnte“.

Im Zentrum unserer gesamtgesellschaftlichen Strukturen steht eine ausbeuterische, ökonomische Logik, die sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen und an den wesentlichen Grenzen unserer natürlichen Lebensgrundlagen ausrichtet, sondern einzig am Profit der Wenigen und an der Verhärtung ihrer asymmetrischen Machtstrukturen.

Von der Gefühlswelt einer Schneeflocke

So kann es nicht überraschen, dass die Menschheit und der Planet Erde einer Vielzahl von abgrundtiefen Krisen gegenübersteht: Regenwald, Klima, Flucht und viele andere mehr. Jede einzelne Krise ist immer mit allen anderen verwoben. Und eines haben sie alle gemeinsam: keine fällt als unvorhersehbare Naturkatastrophe vom Himmel, alle sind Resultat unserer Art, Gesellschaft zu sein und in der Welt zu leben. Alle Krisen sind immer auch menschengemacht. Das ist einerseits eine wichtige Einsicht, denn sie reduziert das sehr oft wahrgenommene Gefühl der grenzenlosen Ohnmacht. Wenn die Welt, so wie wir sie heute erleben, immer auch menschengemacht ist, dann können wir alle auch daran arbeiten, sie zu verändern und so zu gestalten, dass die knapp acht Milliarden Menschen, alle in exakt gleichem Masse Träger der immer gleichen menschlichen Würde, auf dem grosszügigen, begrenzten und zerbrechlichen Planeten Erde wohnlich leben könnten.

Veränderungen sind möglich. Aber diese Einsicht allein rüstet noch lange nicht Gewalt und Herrschaft ab, welche Menschen ausbeutet und die Erde zerstört. Oft denke ich an die Gefühlswelt einer Schneeflocke, die durch beissende Winde im Wintersturm zwischen gigantischen Bergspitzen hin und her getrieben wird. Was vermag die kleine Schneeflocke mit ihrer feinen Sternstruktur, die durch zarte Verästelungen wie Antennen in alle Richtungen greifen? Eine Flocke wird Schnee und Schnee kann Lawine werden. Was wir heute nicht tun, obwohl klein und unscheinbar, könnte morgen fehlen, um eine Lawine der Veränderung auszulösen. Darum müssen wir jetzt handeln. Entrüstet euch!, schrieb Konstantin Wecker. Ja, lasst uns entrüsten, bevor die letzte Kraft und Hoffnung durch den Klimawandel wegschmelzen.

Jeder Mensch kann einen Beitrag leisten, gemeinsam kann Bewegung entstehen. Genau das ist die Idee von Novo Movimento (auf Portugiesisch ‚Neue Bewegung‘). Durch die Begegnung mit Menschen z.B. aus Brasilien sprengen wir unseren kleinen, eingekreisten Horizont und öffnen die Perspektive für andere Menschen: um zwischen uns Menschlichkeit zu ermöglichen, Welt zu teilen und gemeinsam am Werden des Lebens zu arbeiten.

(tuto)