Edna Correia und Roselane Mattos sind beide Sozialarbeiterinnen. Roselane arbeitet seit über zehn und Edna seit gut fünf Jahren im Kinderrechstzentrum Interlagos. Beide engagieren sich innerhalb des Projektes Netzwerk Kinderrecht und begegnen tagtäglich einer grossen Zahl verschiedenster Situationen, in denen Kinder Opfer von Gewalt und Ausbeutung werden. Edna arbeitet konkret an der Vernetzung der verschiedenen Anlaufstellen, die in den letzten Jahren in der ganzen Südzone von São Paulo (genau in den Stadtteilen Capela do Socorro, Grajaú und Parelheiros) entstanden sind. Roselane arbeitet in einer spezifischen Anlaufstelle, die auf sexualisierte Gewalt und Ausbeutung spezialisiert ist.

Ganz links: Edna Correia; zweite von links: Roselane Mattos

Zwischen Lichtblicken und Grenzerfahrungen

Frage an Roselane und Edna: Ihr begegnet jeden Tag verschiedener Formen der Gewalt, versucht die Kinderrechte zu stärken und Kindern und Jugendlichen Lebensperspektiven frei von Gewalt und Ausbeutung zu ermöglichen. Erzählt uns eine positive Erfahrung und auch eine Situation, die euch an eure Grenzen bringt.

Edna: Uns wird es leider nie langweilig, jeder Tag bringt immer unerwartete Herausforderungen. Eine der schönsten Erfahrungen war die Begleitung eines Jugendlichen mit Autismus. Die Familie war schlicht überfordert und wusste nicht, wie sie mit ihrem Sohn umgehen soll. Wir haben lange gekämpft, dass er spezialisierte Betreuung bekommt und auch die Familie gestärkt wird, damit sie ihn unterstützen kann. Heute geht es dem Jugendlichen gut, und jedes Mal wenn ich ihn sehe, ist mir sein Lachen ein Sonnenstrahl, der mir Mut macht. Einfach nie aufgeben, auch wenn alles noch so unmöglich erscheint. Die schwerste Erfahrung war die Begleitung einer jungen Frau, die stark drogenabhängig war und ihr neugeborenes Kind litt permanent unter dem Drogenkonsum seiner Mutter. Wir haben versucht, mit der Mutter einen Weg zu finden, das ging aber unmittelbar nicht und es war nicht möglich, das Kind bei ihr zu lassen. Ich sehe noch immer ihren Blick der Verzweiflung, als sie von ihrem Kind getrennt wurde.

Roselane: Die Menschen in den Favelas und am Rand der Stadt werden immer ausgebeutet und ungerecht behandelt. Ihre Menschenrechte werden mit Füssen getreten und sie können sich meist nicht wehren. Was mich immer sehr stark beschäftigt, ist die Tatsache, dass die Opfer von Gewalt sehr schnell zu Tätern werden, die erlittene Gewalt auf den nächst Schwächeren weitergeben. Und genau daran leiden vor allem Frauen und Kinder. Die häusliche Gewalt ist immer noch sehr hoch und hat jetzt durch Corona weiter zugenommen. Meine wohl schönste Erfahrung steht direkt im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Eine fünfzehnjährige Jugendliche wurde permanent geschlagen und missbraucht. Während langer Zeit habe ich sie und die ganze Familie begleitet. Das war vor gut sieben Jahren. Vor wenigen Wochen hat sie mich nach langer Zeit im Kinderrechtszentrum besucht. Heute ist sie Krankenschwester und hat vor wenigen Monaten geheiratet. Die Erfahrungen der Gewalt trägt sie noch immer in ihr, doch es ist ihr gelungen, sich von diesen Erfahrungen nicht erdrücken zu lassen und nach vorne zu schauen, Schritte zu wagen, um aus dem Teufelskreis der Gewalt auszubrechen.


Steigende Gewalt in der Coronakrise

Frage an Roselane: Du hast den Zusammenhang zwischen Gewalt und Corona eben erwähnt. Könntest du uns ein bisschen mehr über dieses Phänomen berichten?

Roselane: Ja das ist Tatsache. Die Coronakrise hat die vorher schon sehr hohe Gewaltinzidenz an der Peripherie noch weiter erhöht. Es handelt sich dabei nicht nur um häusliche Gewalt. Auch das Vorgehen der Militärpolizei hat ungeahnte Brutalität erreicht. Das hängt natürlich direkt mit der sozialen Ungerechtigkeit zusammen. Die Militärpolizei hält die ausgegrenzte Mehrheit durch nackte Gewalt unter Kontrolle. Und sobald die sozialen Spannungen steigen, wächst die Gewalt in allen ihren Formen. Die Menschen der Peripherie hatten keine Form des Schutzes. Viele verloren durch den Lockdown ihre Arbeit. Kompensierende Sozialhilfe gab es nur punktuell und in immer ungenügender Form. Dazu kam, dass die Regierung auch noch den Zugang zu Impfungen sabotierte. Die bis heute durchgestandenen Wellen waren schon massiv. Bis heute sind in Brasilien nach konservativen Schätzungen über 600 Tausend Menschen an Covid gestorben. Seit Beginn des Jahres hat sich die Impfmöglichkeit aber massiv verbessert. Und das trotz der unverantwortlichen Haltung der Zentralregierung. Im Bundesstaat São Paulo konnte eine breite Impfkampagne umgesetzt werden und der Anteil der zweifach geimpften Menschen liegt über 95% der Bevölkerung. Impfung ist im Kontext der Favelas die einzige Möglichkeit, Menschen zu schützen. Das haben sie auch unmittelbar verstanden und nur so konnte es gelingen, die Lage stark zu beruhigen. In anderen Bundesstaaten ist die Situation aber weiterhin kritisch. Nicht überall gelang es den Bundesstaaten, sich gegen die Zentralregierung durchzusetzen. Im Alltag nehmen wir aber wahr, dass die Gewalt weiter auf hohem Niveau geblieben ist. Im Projekt fehlen uns die Möglichkeiten, alle anfallenden Fälle begleiten zu können.


Das Projekt Netzwerk Kinderrecht als Teil einer breiten Sozialpolitik

Frage an Edna: Das Projekt Netzwerk Kinderrecht ist nicht eine in sich geschlossene Arbeit, sondern sie muss notwendigerweise Teil einer breiten Sozialpolitik sein. Damit hängt der Erfolg des Projektes immer auch von der Verantwortung der Regierungen ab, systematisch in Sozialpolitik zu investieren und die Reichweite des sozialen Schutzes zu erhöhen. Wie analysierst du die Möglichkeiten und die Grenzen des Projektes im Kontext der aktuellen Sozialpolitik in Brasilien?

Edna: In Brasilien ging 1985 die Militärdiktatur zu Ende. Drei Jahre später bekam Brasilien eine neue Bundesverfassung, die erstmals soziale Rechte in diesem wichtigsten Gesetzestext verankert. 1993 wurde dann im Kongress ein die Sozialhilfe reglementierendes Gesetz verabschiedet (Lei Orgânica de Assistência Social), das genau die in der Verfassung verankerten Rechte reglementiert. Ja, und dann ging eben lange gar nichts mehr. Erst 2004 am Anfang der ersten Lula-Regierung wurde endlich diese Gesetzgebung in eine konkrete nationale Sozialhilfepolitik umgewandelt (Sistema Único de Assistência Social). Dieser Prozess ist sehr typisch für unsere brasilianische Realität. Um zu einer Umsetzung von Sozialpolitik zu gelangen, vergingen sage und schreibe sechzehn Jahre.

Zwar sind soziale Rechte eine klare Priorität in der Verfassung, im politischen Alltag sind sie dann aber eben ein absoluter Nebenschauplatz. Damit etwas ins Rollen kommt, müssen wir permanent kämpfen. Genau das ist auch die Situation unseres Projektes. Wir agieren immer in einer Grauzone der Verantwortlichkeiten. Oft stehen wir vor Situationen, deren Lösung in der direkten Verantwortung des brasilianischen Staates wäre, ob auf der Ebene der Gemeinde, des Bundesstaates oder der Zentralregierung. Aber die überwiegende Tendenz ist, dass sich der Staat von seiner Verantwortlichkeit verabschieden will. Und genau da liegt eine grosse Herausforderung in unserer Rolle als Kinderrechtszentrum: natürlich sind wir bereit, als Zivilgesellschaft unseren Beitrag zu leisten, aber die Hauptverantwortung liegt klar beim brasilianischen Staat. Ganz spezifisch bei den Kinderrechten ist jedoch bis heute der Staat jener gesellschaftliche Akteur, der am häufigsten diese Kinderrechte missachtet. Darum ist es gut, dass wir unser Projekt mit Geldern des Sozialamtes der Stadt São Paulo finanzieren können, aber gleichzeitig durch die Unterstützung von Novo Movimento immer auch eine unabhängige Stimme bewahren, die auch den Staat und die bruchstückhafte Umsetzung der Sozialhilfepolitik kritisieren kann. Bis heute ist das Netz der Sozialdienste ganz einfach zu grossmaschig. Das hat ja eben Roselane ganz klar angesprochen.


Ungewisse Zukunft für die Sozialpolitik Brasiliens

Frage an Edna: Gerade anfangs November hat die brasilianische Zentralregierung das Transferprogramm ‚Bolsa Família‘ (Familienstipendien), welches den armen Bevölkerungsschichten Zugang zu überlebenssichernden Geldzuschüssen ermöglicht, abgebrochen. Wie analysierst du diesen Beschluss der Bolsonaroregierung?

Edna: Das Programm der Familienstipendien ist wesentlicher Teil der Sozialhilfepolitik, die ich vorher erwähnt habe. Dieses Programm wurde ebenfalls 2004 initiiert. Es wuchs in den ersten Jahren sehr stark und erreichte bis zu zwanzig Millionen Familien. Das Programm ist eine Erfolgsgeschichte und hat einen zentralen Beitrag geleistet, Armut, Elend und soziale Ungleichheit zu reduzieren. Auch international fand es breite Anerkennung. Natürlich ist klar, dass es als Transferprogramm längst nicht die Ursachen von Elend und Ungerechtigkeit lösen kann. Aber es war ein erster wichtiger Schritt in eine gute Richtung. Weitere Schritte hätten folgen sollen. Leider kam es anders.

Als 2016 die Präsidentin Dilma Rousseff (die wie Lula der mittelinks orientierten Arbeiterpartei angehört) gestürzt wurde, begann die beeindruckende Wachstumskurve des Programmes zu sinken. In den letzten Jahren hat die Inflation den realen Wert des Geldtransfers weggefressen. Und da es sich sowieso um eine sehr kleine Sozialleistung handelt (der Geldtransfer beträgt im Schnitt weniger als vierzig Franken), hat das Programm an Wirksamkeit verloren. Gleichzeitig nahm auch die Zahl der begünstigten Familien in den letzten Jahren systematisch ab. Jetzt hat Bolsonaro das Programm beendet. Er sagt zwar, ein neues Programm werde kommen, niemand weiss jedoch, was es beinhaltet und wie es umgesetzt werden soll. Das ist ein permanentes Problem in Brasilien. Wichtige Grundlagen werden erarbeitet, sie werden aber nicht als Staatspolitik verstanden, sondern immer nur zu Regierungsprogrammen reduziert. Wechselt die Regierung beginnt man bei null. So auch jetzt wieder. Ein gut funktionierendes Programm wird durch ein neues ersetzt von dem nicht einmal die Regierung selber erklären kann, wie es funktionieren soll. Und dass diese Entscheidung gerade jetzt gefällt wird, wo wir mitten in den Folgen der Coronakrise stecken und das Elend massiv ansteigt, ist aus meiner Perspektive mindestens verantwortungslos. Aber das ist eben die Regierung, die wir heute haben.


Trotz allem: wir geben nicht auf!

Frage an Roselane und Edna: Was ihr erzählt ist doch sehr ernüchternd. Wie könnt ihr in eurem Alltag immer wieder neue Motivation finden, um weiter diesen riesigen Herausforderungen zu trotzen?

Roselane: Wenn wir heute den allgemeinen Kontext betrachten, dann ist die Realität tatsächlich sehr traurig. Auf der anderen Seite sehen wir natürlich immer wieder, dass unsere Arbeit in den konkreten Lebenssituationen der begleiteten Menschen trotzdem einen grossen Unterschied macht. Lebenswege, die scheinbar alternativlos in der Sackgasse stecken, finden neue Perspektiven und verändern die Beziehungen in der Familie und der lokalen Gemeinschaft. Ein für mich sehr zentraler Punkt ist immer wieder zu sehen, dass die Menschen sich der Zusammenhänge der Ausbeutung und Ungerechtigkeit gar nicht bewusst sind. Darum zielt unsere Arbeit immer auch darauf, das Bewusstsein der Menschen- und Kinderrechte zu stärken. Wir sind Menschen, die ein Recht haben, für uns und unsere Familien Menschenrechte einzufordern. Dieses Bewusstsein müssen wir stärken. Ich bin mir sicher, dass wir damit eine wichtige Grundlage für die Zukunft schaffen.

Edna: Veränderungsprozesse sind nie einfach gradlinige Kurven nach oben. Als Kinderrechtszentrum und als Sozialarbeiterinnen stehen wir mitten in einem heftig umstrittenen Kampf um Interessen. Zwar sind die Menschen am Rand der Stadt die absolute Mehrheit. Doch sie werden immer wieder missbraucht und manipuliert. Darum ist der Kontext, in dem wir agieren immer extrem komplex und schwierig. Deshalb ist der einzig mögliche Weg, uns zu stärken und immer besser zu vernetzen. Wir müssen eine gemeinsame Stimme finden, um die Bedürfnisse der Menschen sichtbar zu machen, damit sie eine Stimme haben und wahrgenommen werden. Aber Roselane hat sicher den Punkt getroffen: Was uns immer wieder motiviert und uns Kraft gibt nicht aufzugeben, ist die Wahrnehmung, dass Menschen sich und ihren Kontext verändern können. Die Mauern der Veränderungsverhinderer sind immer sehr hoch und massiv. Aber sie haben immer auch Risse. Diese wollen wir nutzen.

(tuto)