Wenn ihr die Nachrichten aus aller Welt verfolgt, kommt ihr sicher immer wieder zum Schluss: „So eine verrückte Welt…“. Und sie scheint immer weiter von dem, was sie eigentlich sein könnte, wegzurücken. Tatsächlich scheitern wir Menschen systematisch an unserer wesentlichen Aufgabe, ein menschenwürdiges und friedfertiges Dasein für alle zu sichern und die Grundlagen für das Leben auf der Erde zu schützen. Eigentlich würden wir mit ein bisschen Offenheit und gegenseitigem Verständnis vor einer ganz guten Ausgangslage stehen. Denn in unserem Zuhause, dem kleinen, blauen Planeten Erde, ist alles so angelegt, dass alle Menschen ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse stillen könnten. Der Grund unserer Krisen ist nicht die oft eingebrachte Überbevölkerung, sondern das völlig aus dem Ruder geratene Ungleichgewicht in der Verteilung der Güter.

Brasilien ist ein sehr gutes Beispiel, um diese Tatsache zu verstehen: ein wunderschönes, (sub)tropisches Land, mit einer aus helvetischer Perspektive kaum vorstellbaren Fruchtbarkeit, mit vielfältigen, im Boden verborgenen Schätzen und einem sympathischen und durchmischten Volk. Also sollte das Leben in Fülle eigentlich ein leichtes Spiel haben.

Sollte es, hat es aber nicht. Brasilien ist erstens das Land auf dem amerikanischen Kontinent, das am meisten afrikanische Menschen versklavte, insgesamt fast 5 Millionen, das sind in etwa 40% aller aus Afrika versklavten Menschen. Brasilien ist auch das letzte Land, das den Handel mit Sklaven beendete (1850) und die Sklaverei verbot (1888). Das ist leider keine Geschichte aus einer längst überholten Vergangenheit. Denn zweitens hat Brasilien bis heute die höchste Einkommenskonzentration der Welt. Im Jahr 2022 liegen 48% des Reichtums des Landes in den Händen von nur 1% der Bevölkerung. Die Daten stammen aus dem Global Wealth Report 2023, den die UBS im August 2023 veröffentlicht hat. Derselbe Bericht zeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer weiter die vermögendsten Menschen weltweit sind. Und schliesslich verfügt Brasilien drittens über einen äusserst brutalen Polizeiapparat. Seit 2013 ist die jährliche Zahl an fatalen Opfern von Polizeigewalt auf über 5.000 gestiegen. Da geht es nicht um den Kampf gegen die illegalen Geschäfte des Drogenhandels, denn in diesen ist der Polizeiapparat selbst massiv involviert. Es geht um die Kriminalisierung sozialer Konflikte, um die Kontrolle der arm gemachten Bevölkerung. Im Grunde handelt es sich um die historische Kontinuität rassistischer Politik.

Die Möglichkeit eines friedfertigen Miteinanders wäre also eigentlich gesichert. Doch Strukturen der Enteignung, Ausbeutung und Unterdrückung wurden historisch geschaffen und werden bis in die Gegenwart gestärkt und global verankert. Soziale Ungleichheit ist also kein natürliches Phänomen. Sie ist gesellschaftlich hergestellt, sie tötet und zerstört Leben, weil sie die Sicherung der Privilegien von wenigen priorisiert. Sie zementiert ungleiche Verteilung von Lebenschancen und beraubt Menschen ihrer Zugehörigkeit zur Welt.

Genau diese Wirklichkeit prägt das Leben der Kinder am Rande der riesigen Stadt São Paulo. Sie erfahren Gewalt in ihrem Alltag. Nicht nur diese beschriebene, strukturelle Gewalt. Denn Gewalt ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Er durchschlägt nicht nur die Oberfläche, sondern bringt das ganze Wasser ins Schwingen. Die Wellen breiten sich kreisförmig immer weiter aus. Soziale Ungleichheit ist eine Form der Gewalt, die nicht nur Menschen, sondern auch die Beziehungen zwischen Menschen zerstört. Sie verhindert Hoffnungen, frustriert Erwartungen. Menschen suchen nach Auswegen, nach Fluchtwegen, verlieren sich in Sackgassen und zerbrechen oft im Rausch und in der Sucht. Am Ende dieser Kette der Gewalt stehen immer Kinder, die nichts anderes wollen als Kind sein, Mensch werden, Gemeinschaft leben, Gegenwart gestalten.

Ein starkes Beispiel ist Gabriel mit seiner Schwester Valquíria. Sie leben seit über zehn Jahren in der Favela Anchieta, Südzone von São Paulo. Ihre Eltern hatten keine registrierte Arbeit und kämpften sich von Tag zu Tag durch. Er auf dem Bau, sie als Putzfrau. Einen Arbeitsvertrag haben beide nicht, und damit auch keine Sozialversicherungen. Mit der Coronapandemie haben beide ihr Einkommen verloren. Der Zugang zur Arbeitslosenversicherung bleibt ihnen ebenfalls verschlossen. Probleme mit Alkohol und häuslicher Gewalt hatte es längst gegeben, doch ohne Arbeit kam es zum schlimmen Absturz.  An irgendeinem Morgen war der Vater weg, und die Mutter blieb mit den Kindern allein zurück. Aber auch sie war durch den Alkohol stark gezeichnet und der Herausforderung nicht gewachsen. Schnell fand sie einen neuen Mann und wollte mit der Familie zu ihm in eine andere Favela ziehen. Valquíria war gerade achtzehn geworden und zusammen mit ihrem Bruder Gabriel fragten sie sich, ob sie mit der Mutter umziehen wollen. Sie fanden das ein sehr zweifelhaftes Wagnis und blieben in der Favela Anchieta. Denn dort hatten sie breite Unterstützung in der Gemeinschaft und in der Projektarbeit gefunden. Gabriel stand kurz vor dem Schulabschluss und Valquiria hatte bereits eine registrierte Stelle. Jetzt arbeiten sie gemeinsam an der Verbesserung ihrer doch sehr prekären Hütte und haben gleichzeitig begonnen, kleine Ersparnisse auf die Seite zu legen. Denn ihr Ziel ist es, ihre beiden Geschwister, die jetzt noch bei der Mutter sind, bei ihnen zu vereinen.

Als Gabriel mir bei meinem letzten Besuch in der Favela ihre Hütte zeigte, kam mir unvermittelt der Stall der Krippe in Bethlehem in den Sinn. Und ist nicht gerade die Geburt in der Krippe ein starkes Symbol für die radikale Gleichheit aller Menschen? Jeder Mensch wird durch andere Menschen in die Welt hineingeboren. Unser eigenes Leben wird erst durch andere möglich: miteinander und durch einander. Dennoch philosophiert die Menschheit vor allem über unsere Sterblichkeit und verliert die uns allen gemeinsame „Geburtlichkeit“ (Ina Praetorius) aus dem Blick. Doch genau das Denken des allen gemeinsamen Geborenseins kann uns mitten in den Vielfachkrisen der Gegenwart neue Perspektiven öffnen. Wir können nur sein und werden, wenn uns ein breites Netz der Achtsamkeit und der Fürsorge trägt. Und erst in diesem uns alle vereinenden Netz der Beziehung können wir zwischen uns das wirklich Menschliche ermöglichen: immer gleichzeitig in familiärer, gesellschaftlicher und globaler Perspektive.

(tuto)