Nach beinahe sechs Jahren, mit immer besorgten und oft traurigen Berichten aus Brasilien, kommen diesmal endlich Wortmeldungen voller Hoffnung. Nach langen Jahren tiefer Nacht über Brasilien ist die rechtsextreme Regierung weggewählt: eine unglaubliche Erleichterung. Die Spuren dieser Zeit sind überall sichtbar: lang aufgebaute Sozialpolitik wurde gestoppt, das verantwortungslose Management der Coronakrise hat überproportional viele Opfer gefordert, die Hetzerei gegen Minderheiten und Frauen fegte über das Land, und die ökologische Irrationalität hat die Bedrohung indigener Völker und die Zerstörung des Regenwaldes Amazoniens massiv vorangetrieben.
Bolsonaro ist weggewählt, obwohl er den Staatsapparat für seine Wiederwahl instrumentalisiert und das öffentliche Budget für seine Interessen missbraucht hat. Die Autobahnpolizei versuchte mit über fünfhundert Blockaden am Wahltag in Hochburgen der Opposition das Resultat zu beeinflussen, die langjährig erfolgreich eingesetzte elektronische Wahlmaschine wurde systematisch (in dummer Imitation des von Trump vorgelebten Musters) in Frage gestellt. Nur mit einer symbolischen und charismatischen Figur wie Luiz Inácio Lula da Silva und einer breit hinter ihm stehenden, demokratischen Allianz war die Tragödie zu stoppen. Das Resultat war schlussendlich sehr knapp, doch es ist geschafft.
Und gleich die zweite gute Nachricht: die Partnerorganisationen von Novo Movimento haben diese harte Zeit überlebt. Als Menschenrechtsorganisationen waren sie die ganze Zeit im Schussfeld der rechtsextremen Regierung und waren systematisch bedroht. Das Kinderrechtszentrum Interlagos in Zusammenarbeit mit der Capoeiraschule Guaraúna und weiteren lokalen Initiativen in der Südzone von São Paulo haben den Alptraum überstanden. Das Projekt Treffpunkt Kinderrecht hat eine wachsende Zahl an Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Rechtsverletzungen geschützt, das Netzwerk Kinderrecht hat unermüdlich versucht, die Folgen der Gewalt zu überwinden und neue Lebensperspektiven zu öffnen.
Symptomatisch für die vergangenen Jahre war die immer hemmungsloser werdende Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen. Beispielhaft dafür steht die Organisation Secoya, die in Zusammenarbeit mit dem indigenen Volk der Yanomamis der exponentiell steigenden Zerstörung des Amazonasregenwaldes Widerstand geleistet hat. Die Unterstützung von Novo Movimento war sicher eine wichtige Hilfe angesichts der oft hoffnungslos scheinenden Herausforderungen.
Auch die Vereinigung der brasilianischen Volksbewegungen (Central de Movimentos Populares – CMP), die 1995 mit breiter Unterstützung von Novo Movimento gegründet wurde, hat sich auf nationaler Ebene gefestigt und ist in den vergangenen Jahren zu einer zentralen Kraft gegen die Zerstörungspolitik der Regierung gereift.
So war Brasilien einmal mehr die Welt im Kleinformat: die Mittel für ein Leben in Würde und Gerechtigkeit sind vorhanden, der politische Wille der realen Gleichberechtigung aller Menschen kam abhanden. Auf der einen Seite die Akkumulationslogik einer kleinen Elite, welche in fossiler Mentalität billige Arbeit und billige Natur ausbeutet und enteignet, auf der anderen Seite die arm gemachte Mehrheit der Menschen, die gegen Gewalt und Unterdrückung ums Überleben kämpft.
In globaler Perspektive steht die Menschheit vor in sich verwobenen und sich gegenseitig verstärkenden Vielfachkrisen. Die kapitalistische Ungleichheitsordnung besteht in unglaublicher Blindheit auf der Illusion einer Wohlstandswachstumswelt, obwohl die Grenzen dieser Irrationalität an allen Ecken und Enden sichtbar werden, und obwohl diese Akkumulationslogik sowieso nur eine kleine Spitze der pyramidenförmigen Weltsozialstruktur privilegiert.
Die Menschheit ist gefangen in selbst produzierten Zwängen. Nichts, was ist, bleibt jedoch ein für alle Mal gegeben. Alles ist gesellschaftlich produziert und gemacht. Alles was ist, war geworden. Und wenn es so wurde, dann kann es auch anders werden. Wir alle sind kleine Rädchen in einem grossen Getriebe, das jedoch nicht einfach ein Selbstläufer ist und nicht beeinflusst oder gar verändert werden könnte. Brasilien zeigt: es besteht Hoffnung! Auch grosse Getriebe können die Richtung ändern. Auch wenn unsere Rädchen klein und unscheinbar sind, sie wirken dennoch. Sie können Bewegung ermöglichen, eine breite Allianz von Menschen und Organisationen, eine neue Bewegung: Novo Movimento. Daran halten wir fest, diese Hoffnung umarmen wir: eine andere Welt ist möglich!
Von dieser Hoffnung erzählen Kinder, Jugendliche und Mitarbeiter*innen aus den Projekten der Partnerorganisationen von Novo Movimento: das Kinderrechtszentrum Interlagos und den Vereinen Guaraúna und Secoya. Auch wenn es unseren kleinen Rädchen nicht immer gelingt, die grossen Getrieb in veränderte Richtungen zu bewegen, so haben auf alle Fälle die kleinen Rädchen für die beteiligten Menschen sehr grosse, Leben ermöglichende Wirkungen. Nanny, die von ihrem Werdegang im Verein Guaraúna erzählt ist ein schillerndes Beispiel. Zum Beginn des Projektes war Nanny ein neunjähriges Mädchen. Heute ist sie selber Capoeiralehrerin geworden. Nannys Stimme und die Worte der anderen Kinder, Jugendlichen und Vertreter*innen unserer Partnerorganisationen sind kleine Samen Wirklichkeit werdender Hoffnung. Ermöglicht wurden diese Samen auch durch Eure Nähe und Verbundenheit, durch Eure Solidarität und Unterstützung. Dafür danken wir Euch allen von ganzem Herzen und hoffen, dass wir diese Samen weiter pflegen und vermehren.
Nanny, Capoeiraschule Guaraúna: Was ich im Projekt lernen konnte, multiplizieren wir weiter!
André (Deco), Zirkusschule Kinderrechtszentrum Interlagos: Kinder und Jugendliche sind Akteure der Veränderung!
Valquíria, Capoeiraschula Guaraúna: Miteinander sind wir eine grosse Familie!
Claudia, Agatha, Rita und Luiza, Zirkusschule Kinderrechtszentrum Interlagos: Alle Kinder haben die gleichen Rechte!
Silvio Cavuscens, Leiter SECOYA: Das Volk der Yanomamis schützt den Regenwald!
(Tuto B. Wehrle)