„Wir leben in einer Welt, in der es vor allem um die Steigerung des eigenen Gewinnes geht. Im blinden Hetzen nach Profit ist es jedoch unmöglich, dass alle Menschen ihre Gewinne maximieren. Wenn einige wenige systematisch kumulieren, dann fehlt logischerweise genau dieser angehäufte Reichtum auf der anderen Seite bei den Vielen. Und genau so ist es heute: wenige werden reicher und immer mehr bleiben in Armut, Prekarität und Elend zurück. In dieser Ungleichheit kann nur Gewalt entstehen. Und das sehe ich in unserem Alltag wie eine grausame Spirale. Nicht nur die Gewalt durch Ausbeutung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Nicht nur die Gewalt der Ellenbogen im alltäglichen Streit ums Überleben. Diese wachsende Gewalt durchquert alle gesellschaftlichen Beziehungen und landet auch immer stärker im familiären Zusammenleben, in der häuslichen Gewalt.
Zirkusschule – Circo Escola, Grajaú, Südzone von São Paulo, Brasilien
In der Projektarbeit des Kinderrechtszentrums nehmen wir mit grosser Sorge eine stark zunehmende Zahl von Selbstverstümmelungen bei Kindern und Jugendlichen wahr. Als ob sie in ihrer Wahrnehmung einer scheinbar unüberwindbaren Hoffnungs- und Perspektivelosigkeit ihren inneren Schmerz mit einem physischen Schmerz zu überdecken versuchen würden. Die immer tiefer wahrgenommene Gewalt und Unsicherheit hat eine traumatisierende Wirkung, und selbst der einzelne Mensch verinnerlicht Gewalt und bringt sie gegen sich selbst zum Ausdruck. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist das sehr erschreckend und besorgniserregend.
In den vergangenen 25 Jahren seiner Existenz hat das Kinderrechtszentrum sehr viele Arbeitsmethoden erarbeitet, systematisiert und bei anderen Akteuren und Organisationen multipliziert. Auf diesen Erfahrungen bauen wir auch in der Zukunft. Heute kommen wir aber doch sehr klar zum Schluss, dass wir in Zukunft viel stärker unsere Präsenz in den Lebensgemeinschaften der Favelas erweitern müssen. Das Projekt Netzwerk Kinderrecht zeigt genau in diese Richtung. Wir werden es in Zukunft noch stärker priorisieren, um das Potenzial der vielen kleinen, aber konkreten und gemeinschaftlichen Initiativen mit Kindern und Jugendlichen zu nutzen und möglichst breite Bewusstseinsbildungsprozesse zu ermöglichen.
Das einzige was Kinder und Jugendliche, ja die Menschen überhaupt haben, sind ihre Beziehungen miteinander. An diesen Beziehungen müssen wir arbeiten, dass sie nicht Reproduktion von Ausbeutung und Ungerechtigkeit werden, sondern wirklich ein Ort des Lernens von Alternativen und neuen Wegen. In der Zirkusschule erleben wir das immer wieder: die am Projekt beteiligten Kinder kommen aus einem sozialen und familiären Kontext, der sehr stark durch Gewalt gezeichnet ist. So kommen die Reaktionen der Kinder logischerweise ebenfalls oft durch Gewalt zum Ausdruck. Diese Reproduktion der Gewalt überwinden wir nicht nur mit Regeln oder Bestrafung. Wir müssen andere Wege für gewaltlose Konflikt- und Traumabewältigung finden. Sehr gute Erfahrungen haben wir mit systematischer Gruppenarbeit gemacht. Wir fragen uns miteinander, woher die Wut und Gewalt kommen, wie sie in uns entstehen und wachsen, wie wir sie verarbeiten können und wie wir sie überwinden können. Das sind immer sehr konkrete Momente, die wir miteinander analysieren. Es braucht die Offenheit, das miteinander zu tun. Und mit dem Wachsen des Vertrauens wird das sehr wohl möglich. In diesen Gruppen können heilende Beziehungen, d.h. die Gewalt überwindende Beziehungen entstehen. Durch das Projekt Netzwerk Kinderrecht versuchen wir, diese Erfahrung in die Breite zu tragen. Das ist eine grosse Herausforderung, der wir uns aber stellen wollen. Die Richtung des Weges ist klar: durch heilende Beziehungen in der Kleingruppe können schützende Gemeinschaften in den Favelas wachsen, die nicht nur in Situationen der Gewalt aktiv werden, sondern auch präventiv vor Gewalt schützen. Und diese vernetzten Gemeinschaften können mit der Stimme von Kindern und Jugendlichen die Sichtbarkeit der Anliegen und Bedürfnisse der Menschen der Favelas zum Ausdruck bringen. Wenn das gelingt, dann sind kleine und grosse Veränderungen möglich.“
(tuto)