Am 5. November sind genau drei Jahre seit der grössten Umweltkatastrophe in Brasilien vergangen. Bis heute wurden die schuldigen Bergbaukonzerne weder verurteilt, noch haben sie den betroffenen Familien Entschädigungen bezahlt. Doch nicht nur im Umfeld der Stadt Mariana sind die Auswirkungen des damaligen Dammbruches bis heute spürbar. Am 650 Kilometer langen betroffenen Teil des Flusslaufes des Rio Doces wurden die Lebensgrundlagen von Millionen Familien nachhaltig zerstört. Das alles bis heute mit absoluter Straflosigkeit. Stephan Lessenich, renomierter deutscher Sozialforscher, stellt in seinem Buch ‘Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis’ die Katastrofe von Mariana in seinen globalpolitischen Zusammenhang (Seiten 9-13 und 17):
«Mariana, am 5. November 2015: In der Bergbaustadt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais brechen die Dämme zweier Rückhaltebecken, in denen die Abwasser einer Eisenerzmine gesammelt wurden. 60 Millionen Kubikmeter schwermetallhaltigen Schlamms – dem Inhalt von 25.000 olympischen Schwimmbecken entsprechend – ergiessen sich über die Anrainergemeinde Bento Rodrigues und in den Flusslauf des Rio Doce. Laut dem Betreiber der Mine, Samarco Mineração S.A., durch ein leichtes Erdbeben freigesetzt, begräbt der aus den Becken flutende Klärschlamm umliegende Bergdörfer und einen Teil ihrer Bewohner unter sich. Den ehedem ‘Süssen Fluss’ lässt er auf drei Vierteln seines 853 Kilometer langen Laufs zu einem giftigen Strom aus Rückständen von Eisen, Blei, Quecksilber, Zink, Arsen und Nickel werden, rund 250.000 Menschen sind damit jäh von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Nach vierzehn Tagen erreicht die rote Flut die Atlantikküste und ergiesst sich, ein verwüstetes Ökosystem hinter sich lassend, ins Meer. Wenige Wochen später spricht die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff auf der Pariser Klimakonferenz von der schlimmsten Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes.
So beeindruckend die Bilder von verschlammten Landschaften und verendeten Tieren, vom toten Fluss und seiner sich dreckig rot färbenden Mundung sind, so derückend ist der Fall Rio Doce doch gerade nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern in seiner perversen Normalität. Denn Rio Doce ist überall. In seinen Ursachen wie in seiner Bearbeitung, in der Absehbarkeit des ‘Unglücks’ wie auch der Reaktionen darauf steht dieser Fall stellvertretend für die herrschenden globalen Verhältnisse. Er steht sinnbildlich nicht nur für eine ökonomisch-ökologische Weltordnung, in der die Chancen und Risiken gesellschaftlicher ‘Entwicklung’ systematisch ungleich verteilt sind. Er verweist zudem in geradezu idealtypischer Weise auf das lokal-, regional- und weltpolitische buisness as usual im Umgang mit den Kosten des industriell-kapitalistischen Gesellschaftsmodells.
Was am Rio Doce passiert ist, war eine ganz normale Katastrophe – und eine mit Ansage. Eine Katastrophe, wie sie sich so oder so ähnlich seit vielen Jahren immer wieder abspielt, in Brasilien und anderswo in den rohstoffreichen Ländern dieser Welt. Als ökonomische Strategie in der globalen Arbeitsteilung setzen diese Lander notgedrungen auf die Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen – und sie tun dies auf intensive, im Zweifel rücksichtslose Weise. Wobei dies ‘sie tun es’ sofort qualifiziert gehört, denn icht selten wird das – je nach Weltmarktpresen – mehr oder weniger lukrative Geschäft an transnationale Konzerne vergeben. Brasilien ist mit fast 400 Millionen geförderten Tonnen (2011) der weltweit drittgrösste Eisenerzproduzent nach China und Australien. Die zunächst staatliche, 1997 privatisierte Vale S.A., ehemals Companhia Vale do Rio Doce, ist neben den britisch-australischen Konzernen Rio Tinto Group und BHP Billiton eines der drei grössten Bergauunternehmen der Welt und mit einem Marktanteil von 35 Prozen der weltgrösste Eisenerz-Exporteur. Gemeinsam mit BHP Billiton ist Vale über die Tochterfirma Samarco Eigentümerin der Mine in Mariana.
Der bei den Dammbrüchen abgegangene Schlamm sei nicht giftig und bestehe hauptsächlich aus Wasser und Kieselerde, hatte Samarco zunächst mitgeteilt. Diese Aussage erwies sich bald als ebenso falsch wie der Verweis auf Erdstösse als Unglücksursache. Es liegt nahe, diese vielmehr in den typischen Atributen des Verwaltungshandelns in sogenannten ‘Drittweltstaaten’ zu suchen, also in Korruption, Klientelismus und mangelnden Kontrollen. An der Oberfläche des Geschehens lässt sich denn auch genau dies finden: Die geborstenen Klärschlammbecken wiesen schon seit längerem bekannte Sicherheitsmängel auf, die von der zuständigen Staatsanwaltschaft bereits im Jahr 2013 gerügt worden waren. Die Behörde wies dabei auch auf die aktue Gefährdung des Dorfes Bento Rodrigues hin sowie darauf, dass für dessen Bewohner keinerlei Sicherheitsvorkehrungen bestünden. Die vom Bundesstaat Minas Gerais, dem grössten Erzabbaugebiet Brasiliens, geforderten Sicherheitsprüfberichte seine, so heisst es, im Fall Samarco nicht von unabhängigen Experinnen, sondern von Mitarbeitern des Unternehmens selbst erstellt worden. Fast zeitgleich mit dem Dammbruch votierte eine Kommission des Senats, der höheren Kammer im brasilinaischen Nationalkongress, in dem sich die Bergbau-Lobby stets auf politische Unterstützung verlassen kann, für ‘mehr Flexibilität’ bei den behördlichen Überprüfungen der Minenbetreiber.
Alles also eine Frage unterentwickelter Staatlichkeit, versagender Institutionen, einer ‘nichtwestlichen’ politischen Kultur? Nun ja. Die andere Seite der Chronik eines angekündigten ‘Unglücks’ ist, dass die Belastung der nunmehr geborstenen Talsperren erst kürzlich massiv erhöht worden war. Trotz (oder wegen) des zuletzt eingetretenen Verfalls der Weltmarktpreise hatten die beiden Grosskonzerne die Fördermenge der Samarco-Mine gegenüber dem Vorjahr um fast 40 Prozent auf 30,5 Millionen Tonnen gesteigert – eine Marktflutungsstrategie, die in Mariana zu einer starken Zunahme des Minenabraums führte und im Effekt zu einer Überflutung des Umlands. Auch das dritte und grösste, einstweilen noch intakte Rückhaltebecken der Eisenerzmine in Mariana weist übrigens gefährliche Risse des Staudamms auf. Und dies sind nur drei von insgesamt 450 Dämmen, die allein in Minas Gerais Abwässer aus Bergbau und Industrie zurückhalten. Etwa ein Dutzend dieser Giftstauseen bedrohen den Rio Paraíba do Sul und damit mittelbar die Trinkwasserversorgung der Metropolregion Rio de Janeiro mit ihren zehn Millionen Einwohnern.
Während die Geschehnisse am Rio Doce also eine Katastrophe für die Natur (und für die in und von dieser lebenden Menschen) ist, war sie doch keine Naturkatastrophe. Ihre Hintergründe sind alles andere als ‘natürlich’: Sie liegen in der Anlage des Weltwirtschaftssystems begründet, in den durch dieses System geprägten Entwicklungsmodellen der rohstoffreichen Länder, in den Weltmarktstrategien der transnationalen Konzerne, im Ressourcenhunger der reichen Industriestaaten, in den Konsumpraktiken und Lebensstilen ihrer Bewohnerinnen. Das, was in Mariana, Minas Gerais, Brasilien stattgefunden hat und dort, jenseits der medial wahrgenomenen Unglücke und Katastrophen, alltäglich stattfindet, ist keine Frage der lokalen Verhältnisse – jedenfalls nicht nur oder im wahrsten Sinne des Wortes nur am Rande. Was sich, aus unserer Sicht, an der ‘Peripherie’ der Welt abspielt, an den Aussenposten des globalen Kapitalismus, verweist zurück auf das Zentrum des Geschehens oder, genauer: auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in jenen Regionen, die sich für den Nabel der Welt halten und ihre Machtposition im wirtschaftlichen und politischen Weltsystem nutzen, um die Spielregeln vorzugeben, an die andere sich halten müssen und deren Folgen andernorts spürbar werden». […]
«Die Geschichte des ‘Unglücks’ am Rio Doce zu erzählen heisst, gleich zwei Geschichten erzählen zu müssen: die verschränkten, verkoppelten, sich kreuzenden Geschichten des Unglücks der einen – und des Glücks der anderen. Ebendiese Doppelgeschichte soll hier in den Blick genommen werden. Es geht um den Einblick in Zusammenhänge, die Einsicht in Abhängigkeiten, in globale Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen. Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr ‘dunkles Gesicht’, um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des ‘Fortschritts’».