Die frostige Zeit in Brasilien trifft natürlich auch das Kinderrechtszentrum Interlagos in der Südzone von São Paulo mit voller Kraft. Dazu kommt, dass seit Januar die Verwaltungen sowohl der Gemeinde als auch des Bundesstaates von São Paulo in der Hand von Parteien sind, die mit dem Putsch-Präsidenten Temer zusammenarbeiten.
Aus Prinzip setzt das Kinderrechtszentrum auf die Umsetzung des brasilianischen Kinderrechtes und der Internationlen Kinderrechtskonvention. In beiden hat der Staat eine wesentliche Rolle, die Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen nicht nur zu schützen, sondern selber aktiv zu fördern. So übernimmt das Kindererechtszentrum nicht die Verantwortung des brasilianischen Staates, sondern fordert permanent und konsequent seine aktive Rolle ein.
Einverstanden jedoch ist das Kinderrechtszentrum mit der Zusammenarbeit lokaler Regierungsstellen. So werden heute über 90% der Projektkosten durch lokale, staatliche Organe gesichert. Einerseits ist das natürlich sehr positiv und zeigt, wie gut verwurzelt das Kinderrechtszentrum arbeitet. Andererseits ist das Kinderrechtszentrum sehr anfällig auf Politikwandel, wie er gegenwärtig abläuft. In der Zusammenarbeit mit der Gemeinde ist die Umkehrung der Windrichtung auch bereits spürbar. Bis jetzt gelingt es jedoch dem Kinderrechtszentrum, die bestehenden Verträge mit der Gemeinde zu halten.
Inhaltlich hat sich an der Projektarbeit des Kinderrechtszentrums nichts verändert. Die beiden Arbeitsachsen sind weiterhin die Projekte Treffpunkt Kinderrecht und Netzwerk Kinderrecht. Das erste versucht, auf die Tragik der verschiedenen Formen der Gewalt Antworten und Auswege zu formulieren. Das zweite ist präventive Arbeit, die Widerstandskraft (Resilienz) der Kinder und Jugendlichen zu stärken, damit sie selber individuell und kollektiv versuchen, Formen des Widerstandes gegen Gewalt und Ausbeutung zu finden und menschenwürdige Lebensperspektiven zu ermöglichen.
Die Mitfinanzierung der Projekte des Kinderrechtszentrums durch Novo Movimento ermöglicht, die immer minimalistisch berechneten Finanzierungen durch den brasilianischen Staat zu ergänzen und qualitativ gute Projektarbeit zu garantieren. Gleichzeitig ermöglicht die Finanzierung durch Novo Movimento die permanente Begleitung der verschiedenen Projektteams, die in extrem schwierigen und konfliktgeladenen Situationen arbeiten und deshalb auf begleitende und unterstützende Massnahmen angewiesen sind. Nur so kann vermieden werden, dass die MitarbeiterInnen zu hilflosen Helfern werden und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Ebenfalls durch Novo Movimento werden systematische Bildungsmassnahmen realisiert. Diese erreichen nicht nur die Projektteams des Kinderrechtszentrums, sondern sind gleichzeitig ein wichtiges Instrument der lokalen und regionalen Vernetzung.
Wie gesagt: Brasilien hat die International Kinderrechtskonvention (1989) nicht nur ratifiziert, sondern ebenfalls seine nationale Gesetzgebung an deren Prinzipien angepasst. Diese Prinzipien bleiben aber bis heute in perverser Distanz zur konkreten, gesellschaftlichen Realität. Die Sozialpolitik zum Schutz der Rechte der Kinder ist immer bruchstückhaft, punktuell, prekär und ohne Dauer. Auch haben Kinder und Jugendliche bis heute den Weg ins staatliche Budget nur sehr gering gefunden.
Gleichzeitig sind Kinder und Jugendliche privilegierte Opfer einer falschen Projektion: eigentlich sind sie Opfer, da ihre Rechte weder respektiert noch geschützt werden, doch gleichzeitig werden sie durch die Massenmedien und durch staatliche Organe zum eigentlichen Grund der extremen Gewalt umfunktioniert. Diese falsche Projektion fördert die Monokultur repressiver Politik. Das vorherrschende Ziel ist der Schutz der Gesellschaft vor den scheinbar gewalttätigen Kindern und Jugendlichen und eben nicht die Wahrung der Rechte der Kinder und Jugendlichen, die Garantie einer qualitativ guten Schulbildung und eines menschenwürdigen Gesundheitswesens.
Und die systematische Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nimmt permanent zu: sowohl durch repressive Massnahmen des Staatsaparates als auch innerhalb des familiären Umfeldes. Jugendliche zwischen 15 und 29 Jahren entsprechen 26% der brasilianischen Bevölkerung. In der Statistik der in Brasilien begannenen Tötungsdelikte entsprechen dieselben Jugendlichen aber über 60% der Opfer. Täter sind meist Drogenkartelle, Todesschwadrone oder Militärpolizei. Zwei von drei Kindern sind in Brasilien Opfer häuslicher Gewalt. In ganz Lateinamerika sterben jährlich über 80.000 Kindern an den Konsequenzen häuslicher Gewalt.
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