Lateinamerika durchsteht eine turbulente Zeit. Nach dem lateinamerikanischen Frühling der ersten fünfzehn Jahre dieses Jahrhunderts, der endlich zahlreiche Verbesserungen in Sozialpolitik und Armutsbekämpfung ermöglicht hat, nimmt im Augenblick ein bissiger Wind Einzug und versucht, genau diese Fortschritte zu annulieren. Doch der Widerstand wächst und mit ihm die Gewalt der Repression und die gezielte Tötung von Menschenrechtsaktivisten.

In Kolumbien kämpfen Schüler und Studenten seit Monaten gegen die drastischen Kürzungen im Bildungssektor und für die Umsetzung der im Friedensprozess ausgehandelte Sozialpolitik. In Argentinien wird in nationalen Wahlen der neoliberale Präsident Macri weggefegt. In Ecuador leistet die indigene Bewegung trotz Repression und Gewalt Widerstand gegen die mit dem Internationalen Währungsfond vereinbarte Verdoppelung des Benzinpreises und zwingt Präsidenten Moreno, seine Reformvorhaben zurückzunehmen. In Chile gehen trotz Ausgangssperre und brutalster Gewalt der Armee täglich hunderttausende Menschen auf die Strassen und wehren sich gegen die Wirkungen des neoliberalen Wirtschaftsmodelles, das die soziale Ungleichheit zu Rekordhöhe steigerte.

Die Menschen in Lateinamerika sind es leid, von ihren Regierungen ignoriert, missbraucht und ausgebeutet zu werden. Sie wollen nicht weiter Objekte von Strukturmassnahmen sein, welche die Gewinne der reichen Eliten und der globalen Grosskonzerne vermehren gleichzeitig aber die Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschen zerstören.

Auf die Machtphantasien des chilenischen Präsidenten Piñera, der die Eskalation der Gewalt durch die Armee damit rechtfertigt, im Krieg gegen einen mächtigen Feind zu sein, antwortet das chilenische Volk: «Wir sind nicht im Krieg, wir stehen zusammen. Bis die Menschenwürde zur Gewohnheit wird».

Wer einmal den Mut gefunden hat, im gewaltigen Umfeld der Favelas von São Paulo seine Stimme für Menschlichkeit und Würde zu erheben, der lässt sich durch wachsende Risiken und Bedrohungen nicht einfach wieder zum Schweigen bringen. Und so lassen wir uns durch die «Pädagogik des halbvollen Glases» leiten. Nicht das halbleere Glas ist unsere Perspektive: nicht die Leere, die Machtlosigkeit, die Unmöglichkeit von Zuversicht. Natürlich ist das Glas nicht voll, doch es hat einen Inhalt: ein Potenzial ist vorhanden, eine Basis ist da, eine Grundlage für die Möglichkeit von Veränderungen ist präsent!