Helena ist Psychologin und arbeitet seit dem Abschluss ihres Studiums im Kinderrechtszentrum Interlagos, Südzone von São Paulo, Brasilien. Sie ist Teil des sozialpädagogischen Teams der Zirkusschule, wo jeden Tag über 400 Kinder und Jugendliche schulbegleitend einen sicheren Ort finden, um spielend die Welt verstehen zu lernen und tanzend einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden.

Seit Covid19 die Welt und ganz speziell Brasilien in Schach hält, ist die Zirkusschule geschlossen. Doch Helena und das Team sind doch jeden Tag vor Ort und suchen nach Formen, die Kinder und Jugendlichen zu begleiten. Heute ist Helena unterwegs. Sie bringt die mit viel Liebe vorbereiteten pädagogischen Materialien in die verschiedenen Favelas des Umfeldes der Zirkusschule. Gleichzeitig sammelt sie die Materialien der vergangenen Woche ein und das Team organisiert anschliessend eine Onlineausstellung der schönsten Zeichnungen und der besten Geschichten.

In „normalen“ Zeiten wäre sie schon längst nicht mehr alleine in den engen Gassen der Favelas unterwegs. Eine ganze Traube singender Kinder würde sie begleiten, um miteinander zwischen den improvisierten Behausungen durchzuziehen. Jetzt läuft sie mit der Maske geschützt alleine über die Anhöhen der Favela Monte Alegre (Berg der Freude). Das gehört zum Leben in den Favelas: die extrem prekären Wohnviertel tragen meist Namen, die auf die Möglichkeit eines guten Lebens hinweisen. Die Menschen leben neben dem stinkenden Abfluss, der mitten durch das Viertel den Hügel hinab fliesst und trotzdem ist es ihr ‚Berg der Freude‘, wo sie versuchen, um ihr Leben zu kämpfen und an einer würdigen Zukunft zu bauen.

Helena ist beinahe bei der angepeilten Hütte aus Holz und Wellblech angekommen, sie biegt nochmals rechts ab und steht plötzlich vor einer beschriebenen Wand. Auf den rot leuchtenden Bausteinen der Mauer steht mit grossen Buchstaben: DISTANCIAMENTO SOCIAL SEMPRE EXISTIU… ASSINATURA: BRASIL (Soziale Distanz hat es immer gegeben… Unterschrift: Brasilen). Die Schrift kennt sie sofort. Es sind die charakterischen Züge der Buchstaben von Mariana, eine sehr aktive und engagierte Teilnehmerin der Zirkusschule. Helena klopft an der wackeligen Holztür bei Mariana, mit einem breiten Lachen begrüssen sich die beiden und verzichten natürlich auf die normale, typisch brasilianische Umarmung. „Soziale Distanz hat es immer gegeben? Was meinst du damit, Mariana“, fragt Helena neugierig.

Und wie aus einem nicht zu bändigenden Wasserfall beginnt Mariana zu erzählen, als wolle sie durch ihr Reden die Einsamkeit der vergangenen Monate übermalen: „Natürlich müssen wir uns vor dem Virus schützen, Abstand halten, Masken tragen. Ist ja klar, alles andere ist Unsinn. Aber gerade weil diese gesellschaftliche Distanzierung hier in Brasilien immer schon existiert hat, können wir die einfachsten Formen des Schutzes vor dem Virus gar nicht umsetzen. Die absolute Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ist eine Art Bürger zweiter Klasse. Auf dem Papier haben wir zwar wie alle die gleichen Rechte und Pflichten, aber nur auf dem Papier. Ob wir vor Hunger sterben, ob wir durch das organisierte Verbrechen der illegalen Banden oder durch den offiziellen Staatsapparat ermordet werden, ob wir arbeitslos ohne jede soziale Sicherheit sind, ob Kinder auf der Strasse schuften müssen: all das ist doch unserer Regierung egal. Wir alle seien freie Bürger…! Ja, ja… und man müsse es halt verdienen, ein schönes Leben haben zu können: das höre ich immer. Aber am Tisch hat es immer nur die paar wenigen Plätze, und diese sind besetzt. Die wenigen, die dort sitzen, verteidigen ihre Privilegien mit brutaler Gewalt.“

„Am Ende werden wir selber für die perverse soziale Ungleichheit verantwortlich gemacht. Es fehle uns halt an Eigenverantwortung, sagen sie. Schon absurd. Wir werden systematisch in den Abgrund gedrängt, und am Ende sollen wir für den Absturz verantwortlich sein. Unglaublich. Die soziale Ungleichheit ist Abbild dieser strukturellen, sozialen Distanzierung, die unser Leben schon immer bestimmt hat. Und genau wegen dieser sozialen Distanzierung können wir uns heute vor dem Virus gar nicht schützen. Natürlich würden wir gerne Abstand halten, zuhause bleiben. Abstand halten in der Favela, wo es kaum Strassen gibt und die Behausungen aneinander geklebt sind? Zuhause bleiben, wenn unsere Familien kein Einkommen haben, auf keine Sozialversicherungen zählen können? Wenn wir nicht jeden Tag auf der Strasse irgendeine Arbeit suchen, haben wir am nächsten Tag nichts zu essen. Natürlich wollen wir uns vor dem Virus schützen, aber verhungern wollen wir auch nicht“.

Die historische „soziale Distanz“ (gesellschaftlicher Abstand) zwischen Menschen, Klassen und Ethnien hat in Brasilien ein Ungleichheitsregime entstehen lassen, sodass die Mehrheit der Menschen, die in Coronazeiten „soziale Distanz“ (physische Distanzierung) zu ihrem Schutz brauchen, gar keine Möglichkeit haben, diese zu leben.

In Brasilien besitzen die sechs reichsten Milliardäre so viel wie die 100 Millionen ärmsten BrasilianerInnen, die Hälfte der Bevölkerung des kontinentalen Landes. Im Weltmassstab ist die Ungleichheit zwischen den reichen und den armen Ländern jedoch noch grösser als die Ungleichheit zwischen den Reichsten und den Ärmsten in den ungleichsten Ländern wie etwa Brasilien. Diese „soziale Distanz“, die es in den Worten Marianas schon lange vor der Corona Krise gegeben hat, ist die inoffizielle Geografie der globalen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse, welche unseren kleinen, verletzlichen Planeten in Zentrum und Peripherie spaltet.

(tuto)