Gerade weil Frauen und Kinder dem Puls des gemeinsamen Lebens am nächsten sind, stehen sie in der Mitte der in vielen Jahren aufgebauten Arbeit der Partnerorganisationen von Novo Movimento. Die Projekte verstehen sich nicht als Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familie, sondern sie sind ein Ort, wo die Opfer der Gewalt selbst aktiv werden und Schritt für Schritt ihr Leben in ihre Hand nehmen. Sie brechen ihr Schweigen, überwinden die Ohnmacht und durchbrechen die Ausweglosigkeit. Alle sind sie in irgendeiner Form Opfer von Gewalt: strukturelle Gewalt, physische Gewalt, häusliche Gewalt, Polizeigewalt usw. Die Projekte holen Kinder, Jugendliche und ihre Familien dort ab, wo sie sind: in einem Kontext Leben zerstörender Gewalt, entstanden durch Sklaverei und Kolonialismus, Ausbeutung und Ungerechtigkeit, multipliziert durch fehlende Sozialpolitik, verinnerlicht durch Alkoholismus und häusliche Gewalt.

In einer Favela der Südzone von São Paulo, Brasilien.

Die Projektarbeit schafft zuallererst geschützte Räume (Projekt Treffpunkt Kinderrecht). Kinder und Jugendliche können sich sicher sein, dass sie hier wahrgenommen werden, dass sie ihre Geschichte erzählen können. Ihre Gefühle und ihr Schmerz werden ernst genommen. Gemeinsam wird die Situation analysiert und die Möglichkeiten des Vorgehens ausgelotet. So verschieden die Lebenswege der einzelnen auch sein mögen, alle stehen sie hilflos und verlassen in ihrem Alltag und finden allein den Weg aus der Spirale nicht. Sicher und geschützt zu sein, tief durchatmen zu können, sich begleitet durch professionelle Unterstützung zu wissen, sind die Grundbedingungen gelingender Projektarbeit.

Die Menschen bleiben nicht in ihrer Opferrolle stehen. Sie wollen zurück in ein lebbares Leben und ringen um verändernde Perspektiven. In vielen Fällen gelingt es auch auf juristischem Weg, das negierte Recht einzufordern: einen Schulplatz, Distanz vom gewalttätigen Ehemann, Zugang zu gesundheitlicher Versorgung usw. In einem ersten Moment geht es um die spezifische Situation eines Kindes und seines unmittelbaren Umfeldes. Doch schnell nehmen Kinder und Jugendlichen wahr, dass sie gar nicht alleine sind. Um sie herum kämpfen unzählige andere denselben Kampf, ringen um dieselben Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven. Sie teilen ihre Erfahrungen, hören die Geschichten der anderen und lernen, dass eine tiefe Gemeinsamkeit sie alle vereint. Vorher hatte die Gewalt ihre unmittelbaren Beziehungen zerstört, jetzt ist es die gemeinschaftliche Verbundenheit, die Beziehungen neu aufbaut und Vertrauen ermöglicht.

Buiu und Kinder der Capoeiraschule Guaraúna, Südzone von São Paulo, Brasilien.

Natürlich sind Gespräche und Austausch von Erfahrungen sehr wesentlich. Aber schnell wollen Kinder und Jugendliche miteinander aktiv werden, sie wollen etwas unternehmen, Gemeinsamkeit erleben, Teilhabe realisieren. Darum folgt auf die spezifische Fallbegleitung die Partizipation in gemeinschaftlichen Räumen, um miteinander zu spielen, Geschichten theatralisch zu verarbeiten, Erfahrungen in Musik zu verwandeln, im Tanz Harmonie und im Trommeln Resonanz zu erleben. Deshalb bieten die verschiedenen Projekte und Initiativen (Projekt Netzwerk Kinderrechte) den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen angepasste Aktivitäten an. Alles sind schulbegleitende Aktivitäten. In der Schule immatrikuliert zu sein, ist ein Teilnahmekriterium. Wer keinen Schulplatz hat, wird begleitet, um einen zu bekommen, und kann in der Zwischenzeit natürlich an den Projektaktivitäten teilnehmen.

Das Projekt Netzwerk Kinderrecht ist ein wachsender Zusammenschluss von verschiedenen Favelas der Südzone von São Paulo. Eine Vielzahl von Initiativen, die allen Kindern und Jugendlichen einen Raum schaffen, um sich in einem geschützten Umfeld entwickeln zu können. Der sichtbarste Teil des Projektes ist sicher die Zirkusschule mit ihrem grossen Zirkuszelt mitten im grössten Wohnviertel der Südzone von São Paulo, genannt Grajaú. Kinder und Jugendliche üben sich in Akrobatik, organisieren sich in Trommel- und Perkussionsgruppen, spielen Fussball oder stellen malend ihre Realität dar. Was beinahe wie organisierte Freizeitbeschäftigung klingt, ist natürlich viel mehr. Es geht um die Überwindung von oft schweren traumatischen Erfahrungen, den Aufbau von Selbstvertrauen. Sich selbst mit Wertschätzung und positivem Potenzial wahrzunehmen, ermöglicht gleichzeitig eine neue Gemeinschaftlichkeit. Genau diese ist das Ziel aller Aktivitäten. Die im Kontext der Gewalt gewachsene Passivität wird schrittweise überwunden. Sie sind zwar Opfer der Gewalt, sie können aber gleichzeitig wieder lernen, sich selbst und auch ihr Umfeld mitzugestalten. Die Wunden der Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus werden durch Anerkennung, Selbstbestimmung und Teilhabe verarbeitet.

Es ist so leicht zu fliehen
aber ich fliehe nicht mehr
kein Verrat an mir, wer ich war und wer ich bin
ich bin gerne, wo ich bin
und ich liebe, woher ich komme
Was für ein wichtiger Ort in meinem Leben
das denke ich immer, wenn ich hier im Projekt bin
hier habe ich gelernt zu sein und zu werden
zu sein, wer ich bin,
ohne mich zu schämen
Hier habe ich gelernt, mich zu engagieren
die ersten widerständigen Gedanken sind hier gereift
keine abstrakten Weisheiten
sondern wirkliche, reale Gesten
gemeinsame Schritte einer veränderten Welt

Nicolly und Rhaissa, im Projekt Netzwerk Kinderrecht aktive Jugendliche

In gleicher Weise arbeitet die Capoeiraschule Guaraúna. Das Zentrum ihrer Aktivitäten ist der Capoeiratanz, der ein lebendiges Beispiel brasilianischer Kreativität ist. Unter den ausgebeuteten Sklaven der Kolonialzeit entstand Capoeira als Tanz, Musik und Akrobatik. Bis heute hat Capoeira ein riesiges Potenzial, die in Afrika verwurzelte Kultur zu stärken, die Geschichte Brasiliens kritisch zu analysieren und die tief in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelten Machtasymmetrien zu überwinden. Angefangen hat die Capoeiraschule Guaraúna mit kleinen Capoeirazirkeln und ist heute in verschiedenen Favelas aktiv. Durch die Unterstützung von Novo Movimento konnte in der Favela Anchieta ein Gemeinschaftszentrum aufgebaut werden, das nicht nur die Aktivitäten der Capoeiraschule ermöglicht, sondern gleichzeitig mit einer Vielzahl von ganz verschiedenen Angeboten ganztäglich genutzt wird. Am Wochenende wird das Zentrum zum Kino, immer sind auch Aktivitäten beruflicher Orientierung für Jugendliche und ihrer Familien auf der Agenda. Der Verein Guaraúna will mehr als nur Capoeira und hat in den vergangenen Monaten eine beeindruckende Kreativität entwickelt, immer neue Angebote lokal zu finanzieren und im Zentrum umzusetzen.

Capoeiraschule Guaraúna in der Favela Morrão, Südezone von São Paulo, Brasilien.

Die Sambagruppe „Pagode da 27“ ist ein weiteres schönes Beispiel, wie kulturelle Ausdrucksformen genutzt werden, um mit Kindern und Jugendlichen neue Lebensperspektiven zu ertasten. Eine seit langer Zeit bestehende Sambagruppe hat eingesehen, dass sie nicht nur für sich Musik machen wollen, sondern ihre Musik gleichzeitig als Instrument sozialer Veränderungen nutzen können. Sie haben ihre Gruppe geöffnet und arbeiten am Aufbau eines Sambaorchesters mit Kindern und Jugendlichen.

Wir haben miteinander Instrumente gebaut
und mit noch recht unbeweglichen Fingern
erste Töne aus den gespannten Saiten geklaubt
langsam Ton an Ton gereiht
bis wir den Rhythmus fanden und Musik entstand
Das haben wir gelernt:
wie in unserem jungen Orchester
so ist es auch im Leben
wir ergänzen uns und sind zusammen Melodie
Töne brauchen sich gegenseitig, um Musik zu werden

Pedro, Mitglied des Projektes des Sambaorchesters des Vereins Pagode da 27

All diese Projekte beginnen mit der individuellen Stärkung von Kindern und Jugendlichen und dem Wiederaufbau gemeinschaftlicher Beziehungen. Sie bleiben aber nicht in der Unmittelbarkeit dieser Beziehungen stehen, sondern bringen die verschiedenen Initiativen immer auch zum Austausch, um Erfahrungen zu teilen, gleichzeitig Bande der Solidarität zu bilden und breite Allianzen zu formen. Damit werden Kinder und Jugendliche lokal sichtbar und entwickeln in breiter Form eine gemeinsame Wirksamkeit, machen Druck auf die lokalen Regierungsinstanzen und setzen sich ein, damit die so dringend notwendige Sozialpolitik nicht in neoliberaler Manier weggespart wird, sondern durch ihre Partizipation vertieft und erweitert werden kann.

Sambaorchester des Pagode da 27, Südzone von São Paulo, Brasilien.

Die soziale Ungleichheit ist tief in gesellschaftlichen Strukturen eingebettet, und alle sozialen Beziehungen haben sich in asymmetrischen Machtstrukturen geschichtlich verfestigt. Darum ist eine organisierte, kritische Zivilgesellschaft von grosser Bedeutung. Was das Projekt Netzwerk Kinderrecht aufbaut, sind lokale und konkrete Elemente einer solchen kritischen Zivilgesellschaft. Dieser Bildungsprozess verläuft nie linear und stetig wachsend, sondern ist immer auch fragil, wird durch die tief verankerten Ausbeutungsstrukturen immer auch wieder gebremst. Alle Initiativen und Projekte sind konstant einem massiven Spannungsfeld zwischen Befreiung und Instrumentalisierung, Aufbau emanzipativer Organisationsformen und Reproduktion alter Ungleichheitsmuster ausgesetzt. Darum ist die Einbettung der Projektarbeit in breitere Strukturen sozialer Bewegungen ein zentrales Anliegen. Eine wichtige Plattform dafür ist die brasilianische Vereinigung sozialer Bewegungen (Central de Movimentos Populares – CMP). Mit diesem Netzwerk schliesst sich die Wirkungskette der Projektarbeit von Novo Movimento, die ganz unten, in den konkreten Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen beginnt und sich bis hinein in die Wirksamkeit der brasilianischen Zivilgesellschaft einbringt.

(tuto)

Südzone von São Paulo, Brasilien.

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